Wiederaufbaukonferenz in Berlin "Es wäre nur natürlich, wenn Deutschland die Führung übernimmt"
24.10.2022, 16:32 Uhr
Rauch über Kiew nach einem russischen Raketenangriff.
(Foto: picture alliance / NurPhoto)
An diesem Dienstag findet in Berlin eine Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine statt, zu der Oleksandr Sushko als Vertreter der ukrainischen Zivilgesellschaft anreist. Eingeladen hat Bundeskanzler Olaf Scholz. Sushko geht davon aus, dass die Bundesregierung bei der Konferenz "ein gewisses Maß an Ehrgeiz bekunden" will.
Oleksandr Sushko ist Chef der ukrainischen International Renaissance Foundation, deren Ziel die Förderung einer offenen und demokratischen Gesellschaft ist. Die IRF gehört zum Netzwerk der Open Society Foundations des US-Investors George Soros.
ntv.de: Herr Sushko, ist es sinnvoll, den Wiederaufbau schon jetzt zu planen, wo völlig unklar ist, wann der Krieg zu Ende sein wird?
Oleksandr Sushko: Natürlich kommt der Wiederaufbau normalerweise nach dem Ende eines Krieges. Aber es gibt einen kurzfristigen und einen langfristigen Ansatz. Der kurzfristige Wiederaufbau findet schon jetzt überall in der Ukraine statt - in den großen Gebieten, die bereits befreit wurden: in der Region um Kiew, in den Regionen Tschernihiw, Sumy und jetzt Charkiw. Zudem müssen wir die von Russland zerstörte Energieinfrastruktur wiederherstellen, auch Krankenhäuser, Schulen. Der Winter steht unmittelbar vor der Tür - wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen in ihren Häusern bleiben können. Andernfalls werden wir eine weitere riesige Welle von Menschen erleben, die das Land verlassen.
Ist bereits klar, wie der Wiederaufbau in der Praxis organisiert werden soll?
Beim langfristigen Ansatz geht es darum, strategisch zu planen und in der Ukraine bereits jetzt die notwendigen gesetzlichen Grundlagen zu schaffen und die Institutionen auf den Wiederaufbauprozess vorzubereiten. Wir brauchen auch Zusagen unserer internationalen Partner, damit wir sofort nach Kriegsende mit dem Wiederaufbau beginnen können. Das ist eine Art work in progress: Eine endgültige Planung gibt es dafür noch nicht, denn es handelt sich hier um eine Arbeit, die von der ukrainischen Regierung, dem ukrainischen Parlament, der Zivilgesellschaft der Ukraine und den internationalen Partnern gemeinsam geleistet werden muss.
Befürchten Sie, dass es im Rahmen des Wiederaufbauprogramms ein Problem mit Korruption geben könnte?
Korruption ist viele Jahre mit der Ukraine in Verbindung gebracht worden. Aber ich glaube nicht, dass klassische Korruption das größte Risiko darstellt. Trotzdem sollten diese Planungen nicht allein von der Regierung ausgearbeitet werden. Das wäre für die Regierung bequem, aber es wäre nicht inklusiv und transparent genug, und wahrscheinlich auch nicht gut genug, vor allem nicht gut genug für internationale Geldgeber und Investoren.
Ich glaube deshalb nicht, dass es die eine zentrale Stelle für den Wiederaufbau geben wird, aber zumindest eine Institution sollte eingerichtet werden: ein Fonds, der die zugesagten Gelder sammelt. Dieser Fonds sollte von der Ukraine verwaltet werden, aber er müsste von einem Gremium beaufsichtigt werden, dem Vertreter der Geberländer und der ukrainischen Zivilgesellschaft angehören.
Mit welchen Erwartungen fahren Sie nach Berlin?
Ich gehe davon aus, dass die deutsche Regierung am Dienstag ihre eigene Vision des Prozesses verkündet, vielleicht sogar eine Art Führungsrolle, die Deutschland in diesem Prozess einnehmen kann, was sehr zu begrüßen wäre. Am Mittwoch wird es übrigens eine Folgeveranstaltung geben, die vom German Marshall Fund und der Open Society Foundation, zu der auch unsere Renaissance Foundation gehört, ausgerichtet wird. Dort wollen wir mit Stakeholdern, mit Zivilgesellschaft und Wirtschaft ins Gespräch kommen und eine Bilanz des großen Ereignisses am Dienstag ziehen.
Die Bundesregierung wirkt unentschlossen, ob sie in der Frage der europäischen Hilfe für die Ukraine eine führende Rolle übernehmen kann oder will. Wie schätzen Sie die Rolle Deutschlands ein?
Das ist für mich schwierig zu beurteilen. Aber allein die Tatsache, dass die deutsche Regierung diese Konferenz initiiert hat, bedeutet, dass sie wahrscheinlich die Absicht hat, ein gewisses Maß an Ehrgeiz zu bekunden. Bundeskanzler Scholz hat erst kürzlich davon gesprochen, dass die Ukraine einen Marshallplan brauche, also einen Wiederaufbauplan, vergleichbar mit dem nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist ein guter Punkt. Ich hoffe, dass ich am Dienstag mehr Details erfahren werde. Wenn es um die militärische Unterstützung geht, die ebenfalls dringend erforderlich ist, weil die Ukraine sonst nicht überleben kann, dann liegt die Führung sicherlich bei den USA, die in diesem Bereich mehr Kapazitäten haben. Aber wenn es um wirtschaftliche Unterstützung geht, denke ich, dass es nur natürlich wäre, wenn Deutschland die Führung übernimmt.
Besteht Ihrer Meinung nach die Gefahr, dass Russland einen Wiederaufbauplan als Provokation auffasst?
Wenn es so ist, können wir daran nichts ändern. Das Einzige, was wir tun können, ist, Putin zu besiegen. Für Putin ist das gesamte demokratische Europa ein Problem. Deshalb versucht er, nicht nur die Ukraine, sondern die europäische Demokratie insgesamt zu zerstören.
Sollte die Ukraine nach dem Krieg Reparationen von Russland fordern?
Wir wissen nicht, wie die Situation nach diesem Krieg aussehen wird, aber zweifellos hat Russland erhebliche Schäden in der Ukraine angerichtet. Schätzungen zufolge belaufen sich die materiellen Verluste auf Hunderte Milliarden Euro. Der Westen hat ja bereits Maßnahmen ergriffen, um russische Vermögenswerte und Finanzmittel einzufrieren, auch Mittel der russischen Nationalbank. Dies könnte eine Grundlage für Entschädigungszahlungen sein. Es würde einen gewissen politischen und rechtlichen Prozess erfordern, aber am Ende, denke ich, sollte ein großer Teil dieser Gelder in die Ukraine fließen, um beim Wiederaufbau zu helfen.
Mit Oleksandr Sushko sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de