Antisemitischer Mob in Dagestan Faschisten sind in Russland immer die anderen


"Wir sind gegen jüdische Flüchtlinge", sagt dieses Schild eines Mob-Teilnehmers vom Sonntagabend.
(Foto: IMAGO/ITAR-TASS)
Mit einem "großen Treffen" will Putin auf antisemitische Proteste im russischen Nordkaukasus reagieren. Seine Lehren aus dem Pogrom dürften jetzt schon klar sein: Das Ausland ist an allem schuld, vor allem die Ukraine. Und Ruhe gibt es nur mit mehr Unterdrückung.
Ein antisemitischer Mob, der auf einem russischen Flughafen Juden und Israelis jagt: Für das Regime von Präsident Putin, das sich in einer "militärischen Spezialoperation" befindet, um die Ukraine zu "entnazifizieren", ist der Vorfall vom Sonntagabend unangenehm. Er passt so gar nicht zur Kreml-Propaganda, nach der die Feinde Russlands allesamt Faschisten sind.
Und so wusste sich der Präsident der russischen Teilrepublik Dagestan, Sergei Melikow, offenbar nicht anders zu helfen, als die Schuld für das Pogrom in Richtung Ukraine zu schieben. "Es ist für niemanden ein Geheimnis, dass unsere Feinde versuchen, die Lage in Dagestan zu destabilisieren", sagte Melikow. Er machte einen Telegram-Kanal namens "Guten Morgen Dagestan" dafür verantwortlich, die Proteste angestachelt zu haben. Dieser Kanal werde von "Verrätern und Banderisten" verwaltet.
Eine Gruppe von Hunderten Männern hatte am Sonntagabend den Flughafen der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala gestürmt. Den örtlichen Behörden zufolge wurden 20 Menschen verletzt, darunter mehrere Polizisten. Rund 60 Personen sollen vorübergehend festgenommen worden sein.
Alles "Banderisten"
Der von Melikow verwendete Begriff "Banderisten" bezieht sich auf den ukrainischen Nationalisten Stepan Bandera, der im Zweiten Weltkrieg die rechtsextreme und antisemitische "Organisation Ukrainischer Nationalisten" leitete und mit den Deutschen kollaborierte. Für Russland ist das Schlagwort zum Kampfbegriff geworden: Innerhalb der russischen Propaganda ist auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ein "Banderist".
Der Telegram-Kanal "Guten Morgen Dagestan" hatte dazu aufgerufen, am Sonntagabend um 19 Uhr Ortszeit zum Flughafen Machatschkala zu kommen, um dafür zu sorgen, dass eine Maschine mit Israelis an Bord wieder umdrehen müsse. Der Kanal verbreitete auch Gerüchte, nach denen Flüchtlinge aus Israel Schutz in Dagestan suchen wollten. Tatsächlich laufen Evakuierungsflüge für russische Staatsbürger über Machatschkala und zwei weitere Flughäfen, die ebenfalls im Nordkaukasus liegen. Ziel ist in der Regel allerdings Moskau.
"Betreten für Juden verboten"
Schon am Samstag hatte sich ein Mob vor einem Hotel in der dagestanischen Stadt Chassawjurt versammelt, weil dort angeblich Flüchtlinge aus Israel untergebracht worden sein sollten. Nach einem Bericht des russischen Exil-Mediums Meduza erlaubte die Polizei einigen Männern, sich im Hotel davon zu überzeugen, dass es dort keine Israelis gab. Auch in anderen Städten im Nordkaukasus kam es dem Bericht zufolge zu antisemitischen Protesten. Die israelische Zeitung "Haaretz" meldet unter Berufung auf örtliche Telegram-Kanäle, das Hotel in Chassawjurt habe ein Schild aufgehängt: "Das Betreten durch israelische Staatsbürger (Juden) ist verboten."
Dagestans Republikchef Melikow schrieb in einer längeren Nachricht auf Telegram, dies seien "für uns alle schwierige Zeiten", in denen von einigen versucht werde, die Menschen aufzuhetzen. Den antisemitischen Mob bezeichnete er als "Hitzköpfe", die sich hätten manipulieren lassen. "Wir alle nehmen die Ereignisse im Nahen Osten mit Schmerz im Herzen wahr", so Melikow. "In allen unseren Moscheen beten sie heute für das palästinensische Volk, für die Seelen der unschuldigen Toten, alten Menschen, Frauen und Kinder, damit das Blutvergießen so schnell wie möglich gestoppt wird." Über die von der Terrororganisation Hamas getöteten Israelis verlor er kein Wort. Die Einwohner der Teilrepublik Dagestan sind überwiegend Muslime.
Die von Melikow behauptete Verbindung in die Ukraine gibt es, ist aber reichlich dünn. An der Gründung von "Guten Morgen Dagestan" war der ehemalige russische Duma-Abgeordnete Ilja Ponomarjow beteiligt, der seit 2016 in der Ukraine lebt und nach eigenen Angaben mit der russischen "Republikanischen Nationalen Armee" verbunden ist. Allerdings sagt Ponomarjow, er habe seit einem Jahr nichts mehr mit dem Telegram-Kanal zu tun.
"Russland braucht den Iran"
Rainer Munz, ntv-Korrespondent in Moskau, sagte, die antisemitischen Ausschreitungen hätten natürlich auch etwas mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine zu tun. Putin habe den Gazastreifen mit dem von der Wehrmacht belagerten Leningrad gleichgesetzt, "und damit ist Israel auf die Stufe gestellt worden mit den Nazis". Dies heize die Stimmung in Russland an.
Auch für den Russland-Experten Jens Siegert ist der offene und sogar gewalttätige Ausbruch von Antisemitismus "die Kehrseite des Krieges gegen die Ukraine", wie er auf X (früher Twitter) schreibt. Für ihn sind die Ausschreitungen eine Folge der uneingeschränkten Parteinahme für den Iran und die Hamas und damit eine Folge der russischen Invasion in die Ukraine: "Russland braucht den Iran und das hat den Preis, dass es sich stärker auf die Seite der Hamas stellt, als der Kreml das vorher getan hätte", so Siegert. "Aus vielen Gründen wäre es für den Kreml besser, die bis vor Kurzem recht stabilen Beziehungen zu Israel nicht zu zerstören." Ein islamischer Mob sei ebenfalls nicht im Interesse des Kremls.
Ähnlich kommentiert Sabine Fischer von der Stiftung Wissenschaft und Politik den Hintergrund es Pogroms. Russland baue den Krieg zwischen Israel und der Hamas in sein "antikoloniales Narrativ" ein und positioniere sich auf Seiten der Hamas und des Iran. Die bislang guten russisch-israelischen Beziehungen würden so "unter dem Bus" landen, sagt Fischer. "Antisemitische Ausschreitungen wie jetzt im Nordkaukasus sind nicht gewünscht, sondern nicht intendierte Folgen dieser driftenden Politik Moskaus. Die triggert Alltagsantisemitismus, nicht nur in den muslimischen Communities."
Kreml veranstaltet "großes Treffen"
Wegen der antisemitischen Ausschreitungen in Dagestan will Putin nun ein "großes Treffen" veranstalten, wie Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Montag mitteilte. Das Ergebnis dürfte ähnlich klingen wie die Äußerungen von Melikow: Die Ukraine ist schuld. "Die gestrigen Ereignisse rund um den Flughafen Machatschkala sind größtenteils das Ergebnis äußerer Einmischung, einschließlich der Einflussnahme von Informationen", sagte Peskow der russischen Nachrichtenagentur Tass zufolge. Vor dem Hintergrund der Aufnahmen aus dem Gazastreifen sei es sehr einfach, die Situation auszunutzen und Menschen zu provozieren.
Jens Siegert weist darauf hin, dass es überall im russischen Nordkaukasus antisemitische Proteste gegeben habe - nur in Tschetschenien nicht. Putins Lehre daraus werde sein, dass nur eine systematische und blutige Unterdrückung wie in Tschetschenien für Ruhe sorgen könne. "Die Reaktion des Kremls auf Gewalt als Folge der Kremlpolitik wird wieder mehr Gewalt sein", so Siegert. Zugleich werde er andere dafür verantwortlich machen. Es ist wie immer in Russland: Egal, was passiert, Faschisten sind immer die anderen.
Quelle: ntv.de