Soldaten spielten Ball auf Toten Frankreich stellt sich seiner Blutschuld in Ruanda
24.06.2023, 10:12 Uhr Artikel anhören
In der Gedenkstätte der Schule in Murambi sind unter anderem Schädel der getöteten Tutsi aufgebahrt.
(Foto: picture alliance / photothek)
Jahrzehntelang wurde sie unter den Teppich gekehrt: Jetzt ordnet ein Pariser Gericht erneut die Untersuchung in Frankreichs Rolle beim Genozid in Ruanda an - eine lang ausstehende Aufarbeitung.
Der süßliche Geruch von Verwesung hängt noch immer in der Luft - auch mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Völkermord von 1994 in Ruanda. Rund 800 mumifizierte Leichen liegen noch immer aufgebahrt in den Klassenzimmern und Schlafsälen der ehemaligen technischen Sekundarschule in der Stadt Murambi, viele davon Kinder.
Die Völkermord-Gedenkstätte im Südwesten Ruandas, rund 160 Kilometer von der Hauptstadt Kigali entfernt, ist bis heute eine von zahlreichen Erinnerungsorten in dem kleinen Land im Herzen Afrikas, in dem vor 29 Jahren über eine Million Menschen ermordet wurden. Die meisten Opfer gehörten der Ethnie der Tutsi an.
Viele Tatorte in Ruanda sind heute als Gedenkstätten hergerichtet. Die auf dem Gelände aufgebahrten Knochen der Opfer dienen der Mahnung, dass so etwas nie wieder geschehen darf. Und wie in Murambi, so zeugen einige dieser Orte nach wie vor auch von der umstrittenen Rolle der Franzosen in diesem düsteren Kapitel Afrikas.
Die Völkermörder flohen nach Frankreich
Ende Juni 1994, als das Massenschlachten im ganzen Land seinen Höhepunkt erreichte, quartierten sich im Rahmen der UN-Militäroperation "Turquoise" über tausend französische Soldaten in den von Blut gerade frisch gesäuberten Schlafsälen der Murambi-Schule ein. Auf der abschüssigen Wiese hinter den Schlafbaracken war gerade das Massengrab mit Abertausenden von Leichen zugeschüttet worden. Darauf errichteten die Franzosen ein Volleyballfeld. Fast jeden Abend spielten sich die Soldaten dort im Leichengeruch die Bälle zu. Bis heute riecht es dort nach Verwesung.
Im angrenzenden Museumsgebäude von Murambi sind Fotos der fünf verantwortlichen ruandischen Politiker und Militärs angeschlagen, die das Massaker von Murambi befohlen hatten, darunter der Präfekt des Bezirks Gikongoro, in dem Murambi liegt, Laurent Bucyiabaruta. Dieser hatte den Hutu-Milizionären nach dem Massaker für ihre "gut erledigte Arbeit" gratuliert. Später lebte er in Frankreich.
Frankreichs lang gehütetes Staatsgeheimnis
Frankreichs Rolle im Genozid von Ruanda war bislang ein gut gehütetes Geheimnis. Dokumente und Beweise lagen fast 30 Jahre lang sicher verwahrt in den Archiven in Paris. Erst 2021 hat der französische Präsident Emmanuel Macron bei einem Staatsbesuch in Ruandas Hauptstadt Kigali eine Zeitenwende angekündigt. Am Massengrab der zentralen Völkermordgedenkstätte in Kigali hielt er eine berührende Rede: "Der Geschichte ins Auge sehen und den Anteil des Leids anerkennen, den es (Frankreich) dem ruandischen Volk zugefügt hat, indem es zu lange das Schweigen der Wahrheitsfindung vorgezogen hat", hatte er den Ruandern versprochen. Sein Besuch sollte ein Schlussstrich unter "27 Jahre Entfremdung und Verständnislosigkeit" sein.
Seither hat sich in Frankreich vieles getan bei der Aufarbeitung der eigenen Rolle bei einem der grausamsten Menschenrechtsverbrechen der jüngeren Geschichte. Ein von Macron in Auftrag gegebener Untersuchungsbericht hatte im März 2021 das Ausmaß der französischen Verstrickung in Ruandas Völkermord enthüllt. Das war bisher von offizieller Seite in Frankreich kleingeredet, wenn nicht geleugnet worden.
Jetzt hat ein Gericht in Paris angeordnet, ein Verfahren wegen mutmaßlicher Komplizenschaft der französischen Militärs und Regierung beim Völkermord in Ruanda 1994 wieder aufzunehmen. Das Verfahren war im September vergangenen Jahres nach 17 Jahren Ermittlungen eingestellt worden. Es gebe keine Beweise dafür, dass die französische Armee an Gräueltaten in Flüchtlingslagern beteiligt gewesen sei oder dass sie den Tätern geholfen oder sie absichtlich davon abgehalten habe, die Morde zu verhindern, entschied das Gericht damals. Der Prozess war 2015 von ruandischen Überlebenden in Frankreich angestrebt worden. Dass er 2022 eingestellt wurde, war für viele von ihnen ein herber Schlag.
Ein Revisionsgericht in Paris hat am Mittwoch diese Entscheidung wegen Verfahrensfehlern gekippt und klargestellt, dass nicht alle relevanten Beweise gesichtet worden seien. Es muss jetzt neu aufgerollt werden. Das gibt Überlebenden neue Hoffnung. Konkret geht es in diesem Prozess um die Rolle der französischen Soldaten beim Massaker von Bisesero im Westen Ruandas, wo fast 50.000 Menschen in nur wenigen Wochen ermordet worden waren. Bisesero liegt unweit der Sekundarschule von Murambi mit dem stinkenden Volleyballfeld, es lag ebenfalls im Stationierungsgebiet der französischen Truppen.
Aus anderen Provinzen und benachbarten Orten, auch aus Murambi, hatten sich im Mai 1994 abertausende Tutsi nach Bisesero gerettet. Hoch oben auf einem Hügel suchten sie in einer kirchlichen Einrichtung Schutz vor den blutrünstigen Hutu-Milizen. Diese umstellten den Hügel und bombardierten ihn wochenlang mit Mörsern und Granaten. Als die französischen Soldaten am 27. Juni 1994 nach Bisesero vordrangen, um den Völkermord im Auftrag der Vereinten Nationen zu stoppen, versprachen sie den überlebenden Tutsi, dass sie nach drei Tagen zurückkehren würden, um sie zu retten. Dann zogen sie ab. Als sie drei Tage später zurückkehrten, war fast niemand mehr am Leben.
2022 wurde Bucyibaruta doch noch verurteilt
Die unaufgearbeitete Rolle Frankreichs hat die Beziehungen zu Ruanda in den vergangenen 30 Jahren schwer belastet. Erst seit Macrons Entschuldigung auf dem Massengrab in Kigali 2021 findet eine zunehmende Annäherung statt. Dementsprechend positiv wurde die Entscheidung des Revisionsgerichts in Paris in Kigali aufgenommen.
Bis heute leben zahlreiche führende Völkermordtäter unbehelligt in Frankreich. Die dortigen Behörden taten sich jahrzehntelang schwer, Ermittlungsverfahren gegen die mutmaßlichen Auftraggeber des Genozids in Ruanda aufzunehmen, die im Exil in Frankreich ihren Ruhestand genossen. Seit Macrons Ruanda-Besuch vor zwei Jahren hat sich auch hier viel getan: Im Juli 2022 verurteilte ein Gericht in Paris Ex-Präfekt Bucyibaruta zu 20 Jahren Haft. Der 78-Jährige, der nach 1994 als Flüchtling in Frankreich alt geworden war, hatte wegen seines Alters zunächst Haftverschonung genossen. Nach dem Urteil wurde er umgehend ins Gefängnis gebracht.
Ganz oben auf der Liste weltweit gesuchter Täter des Völkermordes in Ruanda stand Félicien Kabuga. Fast dreißig Jahre lang schien er verschwunden zu sein. Letztlich wurde der mittlerweile 87-Jährige im Jahr 2020 nahe Paris geschnappt und dann von Frankreichs Behörden an das für Ruanda zuständige UN-Sondertribunal in Den Haag überstellt. Das dortige internationale Gericht erklärte den "Finanzier des Völkermordes" Anfang Juni allerdings für verhandlungsunfähig. Aber immerhin: Frankreich hatte seine Pflicht getan.
Quelle: ntv.de