Politik

Gwendolyn Sasse über den Krieg "Für Putin war die Krim-Annexion ein Test"

Putin könnte den Krieg jederzeit beenden und seine Propaganda einen Erfolg verkünden lassen, sagt Gwendolyn Sasse.

Putin könnte den Krieg jederzeit beenden und seine Propaganda einen Erfolg verkünden lassen, sagt Gwendolyn Sasse.

(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Gwendolyn Sasse hat ein Buch über einen Krieg geschrieben, der noch nicht zu Ende ist. Sie erklärt darin Hintergründe vor allem "die längeren Linien, die Vorgeschichte und zum Teil auch sich abzeichnende Folgen" des russischen Überfalls auf die Ukraine. Die Invasion seit dem 24. Februar ist aus ihrer Sicht die dritte Phase eines Krieges, der bereits 2014 angefangen hat.

ntv.de: Ein Kapitel Ihres Buches ist mit den Fragen überschrieben "Warum dieser Krieg? Warum jetzt?" Was ist, kurzgefasst, Ihre Antwort?

Gwendolyn Sasse: Putin ist der wichtigste Katalysator dieses Krieges, das gilt schon für die Annexion der Krim. Aber es gibt noch andere Faktoren, die diesen Krieg ermöglicht haben. Aus meiner Sicht besonders wichtig ist der Gegensatz zwischen dem autoritären, neo-imperialen Russland und der sich demokratisierenden Ukraine. Für Putin geht es in diesem Krieg vor allem darum, ein anderes politisches Modell in unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland zu verhindern. Dafür sah er Anfang 2022 ein Zeitfenster.

Gwendolyn Sasse ist wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS). Sie ist außerdem Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

Gwendolyn Sasse ist wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS). Sie ist außerdem Einstein-Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin.

(Foto: Annette Riedl / ZOIS)

Sie beschreiben den russischen Krieg gegen die Ukraine in drei Phasen: die Annexion der Krim 2014, der Donbass-Krieg im selben Jahr und dann der Überfall im Februar.

Die Annexion der Krim ist der erste Schritt in diesem Krieg, mit dem Russland den Westen, die Ukraine und auch die russische Bevölkerung überrascht hat. Für Putin ging es bei der Krim-Annexion auch darum, die Reaktion des Westens und der Ukraine auszutesten. Damit hat er die Grundlage geschaffen für die weiteren Phasen dieses Krieges. Ohne die Krim-Annexion hätte es den groß angelegten Angriffskrieg nicht gegeben.

Man hört gelegentlich die These, Putin sei eine Art Geburtshelfer der ukrainischen Nation, weil erst sein Angriffskrieg eine echte ukrainische Identität geschaffen habe. Ist da was dran?

Putin hat viel dazu beigetragen, bei den Ukrainern das Gefühl der Zugehörigkeit zur ukrainischen Nation und zum ukrainischen Staat zu stärken. Aber angefangen hat die ukrainische Identität nicht mit ihm. Das Gefühl eines inklusiven ukrainischen Staats, der aus Menschen mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen besteht, die verschiedene Sprachen sprechen - das beginnt spätestens 1991 mit der Unabhängigkeit der Ukraine in ihren heutigen Grenzen. Beim Referendum im Dezember 1991, kurz vor der Auflösung der Sowjetunion, sprach sich die Mehrheit im ganzen Land für die unabhängige Ukraine aus, auch auf der Krim, wenn auch dort mit geringerer Mehrheit. Seither hat sich die Ukraine über verschiedene Protestbewegungen demokratisiert - schon unter dem ersten Präsidenten Leonid Kutschma, dann bei der Orangenen Revolution 2004 und 2013/14 beim Euromaidan. Immer ging es darum, dass ein Großteil der Gesellschaft sich für ein anderes politisches Modell einsetzte: ein weniger korruptes, ein demokratischeres System. Daraus speist sich das ukrainische Verständnis, eine inklusive Nation zu sein.

Auf der anderen Seite steht Putin mit seinem autoritären Weltbild.

Putins Weltbild wendet sich gegen alles vermeintlich Westliche - gegen die Demokratie mit ihren liberalen Prinzipien und Werten. Seine Schriften und die Staatspropaganda sind da immer radikaler geworden. Worin die Alternative zum Westen besteht, wird dabei nie wirklich klar benannt - da ist immer viel von traditionellen Werten die Rede, die erhalten werden müssten, aber vor allem ist es eine Ablehnung des Westens als politisches System, das als Gefahr dargestellt wird. Zur Ablehnung des Westens gehört in diesem Weltbild ein imperialer Machtanspruch - auch in diesem Punkt hat sich die Rhetorik in den letzten Jahren verschärft. Sie gipfelte in der Behauptung, die Ukraine sei in Wahrheit kein unabhängiger Staat, sondern Teil der russischen Nation.

In Ihrem Buch heißt es, das Paradoxe an Putins Entscheidung für die Invasion in die Ukraine sei, "dass er mittel- bis langfristig das von ihm etablierte politische System in Russland damit gefährdet".

Für Putin steht schon seit Langem der Erhalt seiner Macht im Zentrum seines politischen Handelns. Diese Machtposition setzt er aber mit diesem Krieg aufs Spiel. Welches Risiko er eingeht, zeigt sich schon daran, dass er auf die Hardliner um ihn herum reagieren muss, ihren radikaleren Positionen Raum gibt und den Krieg eskaliert - etwa durch die Luftangriffe, die ab letzter Woche verstärkt in der Ukraine stattfanden, oder auch durch die Mobilmachung. Putin herrscht mit einem auf Loyalität aufgebauten System, das eines Tages brüchig werden kann. Wir sehen dafür erste Anzeichen, aber es ist noch zu früh, wirklich ein Ende des Systems vorherzusagen. Flächendeckende Proteste gibt es noch nicht, wenn auch von unten die Unsicherheit wächst. Zusammen mit der wirtschaftlichen Lage - die durch die Sanktionen immer schlechter wird - kann sich etwas zusammenbrauen, das das System in Frage stellt. Das ist das Paradox: Putin will sein System mit diesem Krieg stärken und ausdehnen. Aber es kann dadurch auch von innen ausgehöhlt werden.

Altkanzlerin Merkel zieht gerade mit einer Botschaft durch die Lande: Die Gasgeschäfte mit Russland seien "aus der damaligen Perspektive" richtig gewesen. Waren sie das?

Aus meiner Sicht waren sie es nicht. Ich hielte es auch für wünschenswert, wenn man diese Entscheidungen im Rückblick kritisch reflektieren könnte - auch aus der Sicht derjenigen, die daran beteiligt waren. Schon vor Merkel, unter Schröder, wurde die Entscheidung getroffen, auf billiges Gas aus Russland zu setzen. Deutschland hat sich damit in eine große, zu große Abhängigkeit von einem autoritären System gebracht. Im Rückblick ist klar, dass das ein Fehler war. Aber es hätte schon damals klar sein können und müssen, dass eine so einseitige Abhängigkeit nicht richtig ist. Die Bundesregierung hat immer wieder behauptet, man könne die wirtschaftlichen Beziehungen von den politischen Beziehungen und von sicherheitspolitischen Themen trennen. Noch im Januar war das die Regierungslinie. Das war eindeutig falsch.

Welches Signal sandte die damalige Bundesregierung an Putin, als sie 2015 dem Bau der Pipeline Nord Stream 2 zustimmte, ein Jahr nach der Krim-Annexion und dem Beginn des Donbass-Krieges?

Für Putin und die ihn stützende russische Elite war damit gesichert, dass Deutschland und auch andere Teile Europas auf lange Zeit von russischem Gas abhängig sein würden. Er hatte nun ein Druckmittel in der Hand. Alle Sanktionen, die die Europäische Union als Reaktion auf die Annexion der Krim und den Donbass-Krieg verhängte, standen dann auch im Widerspruch zur Abhängigkeit von russischem Gas und Öl. Das Signal war: Putin konnte sicher sein, dass die politischen Beziehungen immer so gestaltet sein würden, dass diese Lieferungen nicht gestört werden.

Sie erwähnen Merkel in dem Buch nicht, nicht einmal an der Stelle, wo es um die Minsker Abkommen geht. Warum nicht?

Es war keine bewusste Entscheidung, einzelne Personen nicht zu nennen. Der Akzent der 128 Seiten liegt auf den gesellschaftlichen und politischen Dynamiken in der Ukraine und Russland, der internationale Kontext wird anhand von Strukturen und Trends diskutiert. Es geht jedenfalls nicht darum, dass ich ein Blatt vor den Mund nehmen will, um jemanden zu schonen. Im Gegenteil, ich sehe die Rolle der letzten deutschen Regierungen mit Blick auf die einseitige Energieabhängigkeit und den Glauben daran, das sicherheitspolitische Risiko managen zu können, sehr kritisch. Aber in diesem Buch geht es nicht um die Fehler einzelner Personen - sonst wäre die Liste auch sehr lang geworden.

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Weil Sie Minsk angesprochen haben: Da sehe ich Merkels Rolle nicht so kritisch. Das Minsker Abkommen, an dem sie mitgewirkt hat, war aus meiner Sicht zu diesem Zeitpunkt ein wichtiger Versuch, in einem kritischen Moment einen Waffenstillstand zu erreichen.

Für die Ukraine war Minsk ungünstig.

Das Abkommen wurde zu einem für die Ukraine ungünstigen Zeitpunkt geschlossen. Die Ukraine war damals nicht in der Lage, sich zu verteidigen, und der Westen war nicht bereit, die Ukraine mit Waffen zu unterstützen. Ohne Minsk wäre die Ukraine in einer noch viel schlechteren Lage gewesen. Dass Russland nie ein Interesse daran hatte, das Abkommen umzusetzen, wurde immer klarer - das ist Teil des Lernprozesses, der auch dazu geführt hat, dass die Ukraine sich militärisch anders aufgestellt hat. Und auch der Westen hat daraus gelernt.

Sie schreiben im Vorwort, dass es Putin um die Vernichtung des unabhängigen ukrainischen Staats und der ukrainischen Nation gehe. Ist das ein genozidialer Krieg?

Für eine abschließende Bewertung ist es noch zu früh. Aus meiner Perspektive und auch aus der Perspektive von Experten und Expertinnen mit historischer und strafrechtlicher Expertise kann man bereits davon sprechen, dass dieser Krieg genozidiale Elemente aufweist - darunter auch in der Rhetorik Putins, Medwedews und anderen. Ob der russische Angriffskrieg später insgesamt als Genozid klassifiziert wird, oder ob es bei den Kategorien "Kriegsverbrechen" und "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bleibt, das werden die bereits laufenden Untersuchungen zeigen. Genozid ist ein komplexer völkerrechtlicher Strafbestand, an diesem Punkt sind wir noch nicht.

Wie war es eigentlich, ein Buch über einen noch laufenden Krieg zu schreiben? Haben Sie versucht, das aktuelle Kriegsgeschehen auszublenden, um die langen Linien nicht aus dem Blick zu verlieren?

Ich habe versucht, parallel zu denken und das Kriegsgeschehen mitzuverfolgen. Aber es ist nicht möglich, gegen das Kriegsgeschehen anzuschreiben und immer aktuell zu bleiben. Darum ging es in diesem Buch auch nicht. Den Akzent habe ich ganz bewusst auf die längeren Linien, die Vorgeschichte und zum Teil auch auf sich abzeichnende Folgen gelegt. Es ging mir vor allem um einige verbreitete Fehlwahrnehmungen über die Ukraine und über Russland, und auch darum, wie es zu diesem Krieg gekommen ist.

Braucht Putin einen gesichtswahrenden Ausweg aus diesem Krieg? Und kann der Westen ihm diesen Weg überhaupt bieten?

Ich finde schon die Formulierung problematisch. Warum sollte der Westen Putin einen gesichtswahrenden Ausweg bieten? Es gab mehrere Möglichkeiten, wo er andere Entscheidungen hätte treffen können. Vor Beginn der Invasion im Februar gab es die Möglichkeit, auf höchster Ebene Sicherheitsfragen mit der NATO und den USA zu verhandeln. In den ersten Tagen und Wochen nach Beginn der Invasion hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj viel auf den Tisch gelegt für Verhandlungen. Er hat die Neutralität der Ukraine und ein Einfrieren des Konflikts angeboten, was faktisch ein Zurückgehen auf den Stand vor dem 24. Februar bedeutete, sodass Teile des Donbass und die Krim erst einmal ausgeklammert worden wären. Es zeigte sich aber immer wieder, dass es in Moskau keinen politischen Willen für Verhandlungen gab. Jede Eskalation ging von der russischen Seite aus. Momentan ist für die Ukraine daher kein Verhandlungsspielraum da. Putin dagegen könnte den Krieg jederzeit beenden und seine Propaganda einen Erfolg verkünden lassen.

Kann er das wirklich noch nach der Annexion der vier ukrainischen Regionen?

Mit den Annexionen und auch mit der Mobilmachung wird das schwieriger, ja. Die Annexion wurde allerdings erstaunlich vage gehalten. Es ist nicht klar, welches Territorium genau annektiert wurde oder wann dort auf den Rubel umgestellt werden soll. Ich will diese Annexionen nicht kleinreden. Aber wenn er es wollte, könnte er sagen, dass Russland sich auf den Donbass zurückzieht.

Mit Gwendolyn Sasse sprach Hubertus Volmer

Quelle: ntv.de

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