Erst Trump, dann Putin "Für den Arktischen Rat war das der Anfang vom Ende"
22.10.2022, 14:19 Uhr
Dem Arktischen Rat gehören acht Staaten an - darunter künftig sieben NATO-Mitglieder.
(Foto: imago images/NurPhoto)
Der kanadische Diplomat Bernard Funston ist einer der Architekten der Ottawa-Erklärung, mit der 1996 der Arktische Rat gegründet wurde. Ziel des Gremiums ist ein Interessenausgleich zwischen den Anrainerstaaten - doch aktuell hat Russland den Vorsitz inne. Im Interview mit ntv.de spricht Funston über den geopolitischen Wandel in der Arktis und die mögliche Zukunft des Arktischen Rates. "Ich glaube nicht, dass wir zum Arktischen Rat zurückkehren können, solange Putin und Lawrow im Amt sind", sagt der Kanadier. "In den internationalen Beziehungen treten wir jetzt in eine Phase ein, die man als 'Herr der Fliegen'-Zeit bezeichnen kann."
Als Vorsitzender des Internationalen Ausschusses entwarf Funston die Geschäftsordnung des Rates. Von 1997 bis 2006 war er Berater der kanadischen Botschafterin für zirkumpolare Angelegenheiten und diente später mehrere Jahre als Exekutivsekretär im Sekretariat der Arbeitsgruppe für nachhaltige Entwicklung in der Arktis. Zwischen 2010 und 2013 war er Vorsitzender der kanadischen Polarkommission.
ntv.de: Gegen Ende des Kalten Krieges rief Michail Gorbatschow dazu auf, die Arktis in eine "Zone des Friedens" zu verwandeln. Wie haben Sie diesen Wandel erlebt?
Bernard Funston: Gorbatschows Aufruf führte zu 25 Jahren einer wirklich unglaublichen Zusammenarbeit in der Arktis. Ich war zwischen 1994 und 2019 bei fast jedem Treffen auf allen Ebenen dabei. Glauben Sie mir, ich konnte die Veränderung sehen.
Sie haben an der Unterzeichnungszeremonie zur Gründung des Arktischen Rates teilgenommen. Was war damals Ihre Rolle?
Ich war Berater von Mary Simon. Sie ist heute Generalgouverneurin von Kanada. Im Oktober 1994 wurde sie zur Botschafterin von Kanada für "zirkumpolare Angelegenheiten" ernannt. Im Vorfeld der Gründung des Arktischen Rates war ich auf kanadischer Seite einer der Hauptverfasser verschiedener Versionen der Ottawa-Erklärung. Später war ich viele Jahre lang im Arktischen Rat als Exekutivsekretär der Arbeitsgruppe für nachhaltige Entwicklung tätig.
Was war die Hauptaufgabe des Rates bei seiner Gründung?
In den frühen 1990er-Jahren waren die USA in vielerlei Hinsicht der einzige Hauptschiedsrichter in der Welt. Sie wollten sich nicht in eine rechtlich gebundene, starre Struktur mit Moskau als gescheiterter Supermacht und einer Gruppe kleinerer arktischer Staaten einbinden lassen. Kanada hoffte, sich mehr auf die menschliche Dimension und die nachhaltige Entwicklung konzentrieren zu können. Aus meiner Sicht ist es uns damals durchaus gelungen, ein Forum zu schaffen, das auf Vertrauen und gemeinsamem Engagement beruhte. Als der Rat gegründet wurde, war er weniger ein politisches Gremium als vielmehr ein wissenschaftliches Format. Die Mitgliedstaaten entsandten nur selten Minister zu hochrangigen Treffen. Damals landete ich oft in einem Raum voller hochrangiger Bürokraten.
Wann rückte die politische Agenda stärker in den Vordergrund?
Das geschah zu der Zeit, als Russland zwischen 2004 und 2006 erstmals den Vorsitz im Arktischen Rat innehatte. Im Jahr 2011 nahm Hillary Clinton am Arktis-Gipfel in der grönländischen Hauptstadt Nuuk teil. Seitdem waren die USA fest an Bord. Der Rat hat sich allmählich von einer regionalen zu einer globalen Struktur entwickelt.
Nun steht die Arktis erneut vor einem Paradigmenwechsel. Wie schätzen Sie ihn ein?
Im 20. Jahrhundert und zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nach Gorbatschow und mit der Schaffung der Arktischen Umweltschutzstrategie AEPS im Jahr 1991, wurde die Arktis in erster Linie als Forschungsgebiet betrachtet. Es war vor allem die wissenschaftliche Forschung, die die Agenda bestimmte. Nun geht diese Ära allmählich zu Ende.
Was wird darauf folgen?
In den internationalen Beziehungen treten wir jetzt in eine Phase ein, die man als "Herr der Fliegen"-Zeit bezeichnen kann. Haben Sie den Roman von William Golding gelesen? Diese neue Ära basiert nicht auf Anstand, sondern auf roher Macht.
Was bedeutet das für die Arktis?
Die wissenschaftliche Zusammenarbeit dort wird wohl weitergehen, aber die Lehren über die Dringlichkeit, auf den Klimawandel zu reagieren, könnten verloren gehen. Die Arktis könnte in den Zustand zurückkehren, in dem sie sich vor der Gründung des Arktischen Rates befand. Ich glaube nicht, dass wir zu diesem Format zurückkehren können, solange Putin und der russische Außenminister Sergej Lawrow im Amt sind. Das ist einfach nicht möglich. Menschen, die mit einem Atomkrieg drohen, dürfen nicht mit am Verhandlungstisch sitzen.
Seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine boykottieren alle Mitgliedstaaten außer Russland (A7) den Rat. Könnten die A7 nach dem Ende des russischen Vorsitzes im Frühjahr 2023 offiziell als neues Format etabliert werden?
Die Möglichkeit eines Sprungs von den Arktischen Acht zu den Arktischen Sieben ist nicht offensichtlich. Die Struktur der Ottawa-Erklärung ist so, dass sie in diesem Fall komplett neu verhandelt werden müsste. Aus meiner Sicht ist es auch nicht im besten Interesse der verbleibenden Arktis-Staaten, den Arktischen Rat neu zu erfinden.
Sieben der acht Mitglieder des Rates sind oder werden bald Teil der NATO sein. Was könnte ein neuer Ansatzpunkt für sie sein?
Einer der Schwerpunkte für die NATO-Sieben könnte darin bestehen, die Infrastruktur in der Arktis zu verbessern und die notwendige Interoperabilität herzustellen. Das Preisschild dafür ist groß. Es geht nicht nur um Überwachungssysteme, sondern auch um den Schiffsverkehr und andere Unterstützungssysteme, die im Falle eines Konflikts in der Arktis benötigt würden, und diese sind sehr teuer.
Könnte es zur Einrichtung eines Sonderfonds kommen?
Ja, es könnte tatsächlich eine Art gemeinsamer Investitions- oder Infrastrukturentwicklungsfonds geschaffen werden. Dieser würde nicht nur für den Aufbau des NATO-Teils der Zusammenarbeit in der Arktis, sondern auch für die Deckung des regionalen Bedarfs verwendet werden. Die meisten derartigen Projekte haben eine Doppelfunktion. Wenn ein Hafen gebaut wird, um lokalen Gemeinschaften zu dienen, kann er natürlich auch einen militärischen, strategischen oder sicherheitspolitischen Aspekt haben.
Die USA haben kürzlich eine nationale Strategie für die Arktis (pdf) veröffentlicht. Ist das eine Art Game-Changer für die Region?
Ich wage die Behauptung, dass ich mich nicht beliebt mache, wenn ich sage, dass die USA genauso viel Schuld am Zusammenbruch des Arktischen Rates tragen wie Russland. Donald Trump hat eine Menge Schaden angerichtet. Im Jahr 2019 weigerte sich der damalige US-Außenminister Mike Pompeo, eine gemeinsame Erklärung zum Schutz der schnell schmelzenden Arktis zu unterzeichnen, weil er den Klimawandel nicht als ernsthafte Bedrohung ansah. Dies geschah zum ersten Mal in der Geschichte des Gremiums. Für den Rat war dies praktisch der Anfang vom Ende.
Nun aber rüstet Washington seine Arktis-Diplomatie auf. Es hat den Posten eines Arktis-Botschafters geschaffen.
Ja, das mag heute der Fall sein. Aber in zwei kurzen Jahren kann sich alles ändern. Wir werden sehen, was bei den Zwischenwahlen im November passiert. Die größte Frage wird sein, ob die NATO nach dem Regierungswechsel in den USA im Jahr 2024 erhalten bleiben wird. Wenn wir in eine Situation geraten, in der die USA nicht mehr die führende Rolle spielen, nicht nur in der Arktis, sondern auch geopolitisch in der ganzen Welt, dann sind wir in ernsten Schwierigkeiten.
Kanada hat sich lange dagegen gesträubt, dass der NATO eine größere Rolle in der Arktis zugewiesen wird. Wird sich das jetzt mit der Aufnahme von Schweden und Finnland ändern?
Kanada hat sicherlich ein Interesse daran, dass die NATO funktionsfähig ist. Allerdings ist Kanada oft mehr an dem Prozess selbst als an dem Endergebnis interessiert. Es investiert Millionen, wenn nicht gar Milliarden, in die Forschung, aber allzu oft ohne konkrete Ergebnisse. Nun aber werden die Umstände für Ottawa noch komplizierter, insbesondere angesichts des bevorstehenden Machtwechsels in den USA.
Könnte die neue Rolle Schwedens und Finnlands als NATO-Mitglieder den Trend zur "Balkanisierung", das heißt zu einer stärkeren politischen und territorialen Aufspaltung in der Region, bremsen?
Da bin ich mir nicht sicher. Man kann eine sehr starke militärische Sicherheit haben und trotzdem eine Erosion der sozialen und politischen Zusammenarbeit erleben. Diesem Trend könnte durch eine hoffentlich jüngere und klügere Führung entgegengewirkt werden. Wir müssen irgendwie die alte politische Garde loswerden - Leute wie Putin, Xi, Trump, Modi, mit ihren großen Egos, ihrem Scheuklappendenken und ihrer Boshaftigkeit. Das ist natürlich nur politisch gemeint.
Sehen Sie das Streben Grönlands nach Unabhängigkeit auch als Teil dieser "Balkanisierung"?
Nein, die Selbstverwaltung Grönlands oder sogar der Status eines unabhängigen Staates würde die Zusammenarbeit in der Region nicht unbedingt untergraben. Grönland hat ein enormes Potenzial für die globale Wasserversorgung. Wasser könnte durch Pipelines oder vielleicht mit U-Boot-Tankern transportiert werden. Das wäre ein riesiges Kooperationsprojekt. Es gibt Schifffahrtsgesellschaften in Südkorea und Finnland und Pipeline-Unternehmen in Nordamerika. Australien ist führend in der Technologie für Langstrecken-Wasserpipelines. Das könnte die Geopolitik verändern.
Bedauern Sie, dass Sie jetzt nicht mehr in der Lage sind, den Wandel in der Arktis mitzugestalten? Und dass die Degradierung des Arktischen Rates nun wahrscheinlich unumkehrbar ist?
Damit komme ich schon zurecht. Mein erster Abschluss war in Geschichte, und erst danach kam Verfassungsrecht. Ich bin also mit den Höhen und Tiefen der historischen und institutionellen Entwicklungen vertraut. In den 25 Jahren, in denen der Arktische Rat aktiv war, hat er ein globales Bewusstsein für diese Region geschaffen. Die Arktis ist nicht an und für sich wichtig. Sie ist wichtig, weil sie für den Rest der Welt von Bedeutung ist. Sie ist also ein Indikator dafür, was anderswo in der Welt richtig oder falsch läuft.
Wenn Sie noch an den Entscheidungsprozessen beteiligt wären, was wären Ihre Ziele gewesen?
Wenn ich noch involviert wäre und noch Einfluss hätte, hätte ich mich in den letzten Jahren für Mechanismen eingesetzt, die es Beobachterstaaten wie China, Indien und Südkorea erlauben würden, mehr zu tun, als nur im hinteren Teil des Sitzungssaals zu sitzen. Ich würde gerne ein Modell des Arktischen Rates sehen, der die asiatisch-pazifische Region, einige der afrikanischen Staaten und Südamerika einschließt. Die Tatsache, dass das Gremium nicht militärischer Natur war, war seine größte Stärke. Es war möglich, verschiedene Länder einzubeziehen, ohne rote Linien festzulegen zu müssen.
Mit Bernard Funston sprach Ekaterina Venkina
Quelle: ntv.de