Krisenszenarien für Kiew "Für die Ukraine ist Trump eine politische Naturkatastrophe"
21.02.2025, 16:47 Uhr
"Trump schafft einen Informationsraum für sich selbst", sagt Wolodymyr Fessenko, "und der hat mit der tatsächlichen Wirklichkeit nichts zu tun." Die Ukraine muss allerdings auch mit Trumps Wirklichkeit umgehen.
(Foto: dpa)
Die Beziehungen zwischen der Ukraine und den USA sind auf einem Tiefpunkt. Wie soll die ukrainische Regierung damit umgehen? "Im Moment sollte man zunächst die öffentliche Polemik mit Trump einstellen", sagt der renommierte ukrainische Politikberater Wolodymyr Fessenko im Interview mit ntv.de. "Deren Fortsetzung wird nichts bringen und lediglich zur Verstärkung der rhetorischen Aggressionen aus seinem Lager beitragen." Vor allem rät Fessenko seiner Regierung, über Vermittler Einfluss auf Trump zu nehmen - etwa über Frankreich und Großbritannien, oder über Italien und Argentinien. "Und wir sollten offen dafür sein, andere Länder in die Verhandlungen einzubinden. Die Türkei wäre eine gute Variante, aber auch China könnte ab einem gewissen Zeitpunkt einsteigen."
ntv.de: Herr Fessenko, aktuell vergeht kaum ein Tag ohne rhetorische Angriffe des US-Präsidenten Donald Trump auf Wolodymyr Selenskyj. Er hat ihn sogar als "Diktator ohne Wahlen" bezeichnet. Dabei sind die USA der wichtigste Unterstützer der Ukraine. Wie katastrophal ist die öffentliche Konfrontation zwischen Trump und Selenskyj für die Ukraine?
Wolodymyr Fessenko: Es ist die mit Abstand größte Krise der amerikanisch-ukrainischen Beziehungen in ihrer Geschichte. Obwohl es gelegentlich Schwierigkeiten gab, sind solche Frontalangriffe seitens eines US-Präsidenten ein Novum. Wir stehen nun in einer Reihe mit Dänemark, Kanada oder Panama. Ich bin mir sicher: Diese Reihe wird sich fortsetzen.

Wolodymyr Fessenko ist einer der bekanntesten ukrainischen Politikexperten. Seit 2003 ist der Politikwissenschaftler Vorstandsvorsitzender des Zentrums für angewandte politische Forschung Penta in Kiew. Fessenko (66) ist auch als Politikberater tätig.
(Foto: privat)
Hat die ukrainische Seite mit Blick auf Trump Fehler gemacht?
Nein. Man hat sich sehr bemüht und stets korrekt verhalten. Ganz unterschiedliche Umstände haben in einem Moment zusammengepasst. Trump ist halt Trump. Der Auslöser für seine typischen Emotionen war sicher die Nichtunterzeichnung über die gemeinsame Nutzung der ukrainischen strategischen Ressourcen. Es war aber richtig, ein inakzeptables Abkommen nicht binnen kürzester Zeit zu unterzeichnen. Ebenfalls war es richtig, die amerikanisch-russischen Verhandlungen in Saudi-Arabien zu kritisieren. Für Trump ist dies die bloße Drucktaktik. Aber er ist sowieso eine politische Naturkatastrophe.
Welche Folgen hat diese "Naturkatastrophe" für die Ukraine?
Wir müssen konstatieren, dass die USA unter Trumps Präsidentschaft nicht mehr der wichtigste strategische Partner der Ukraine sind. Wahrscheinlich wird Washington überhaupt kein verlässlicher Partner mehr sein, wahrscheinlich wird diese Partnerschaft nur noch eine Weile träge weitergehen. Im Verhandlungsprozess wollen die USA eher als neutraler Vermittler auftreten. Das Ausmaß ihrer Neutralität, insbesondere von Trump selbst, steht allerdings stark infrage. Mit Blick auf jegliche Verhandlungen sollte die Ukraine nicht auf die Unterstützung der USA zählen. Angesichts seiner persönlichen Position besteht das große Risiko, dass er Frieden vor allem durch große Zugeständnisse der Ukraine schließen will.
Wie erklären Sie sich die Situation, dass der US-Präsident selbst die offensichtlichste Desinformation weiterverbreitet und russische Propaganda nacherzählt? Selenskyjs Vertrauenswerte sind bei weitem nicht mehr bei rund 90 Prozent wie im Frühjahr 2022. Aber sie sind auch weit entfernt von vier Prozent, wie Trump behauptet hat.
Ich denke, es geht weniger darum, russische Propaganda nachzuerzählen, sondern eher darum, dass Trump in seiner eigenen Realität lebt. Er schafft einen Informationsraum für sich selbst - und der hat mit der tatsächlichen Wirklichkeit nichts zu tun. Trump hat riesige Probleme mit Fakten und Zahlen. Sowohl mit Blick auf den aktuellen Krieg als auch auf den Zweiten Weltkrieg spricht er von völlig unrealistischen Verlustzahlen. Es ist offensichtlich, dass es in seiner Umgebung Leute gibt, die ihn gegen Kiew einstimmen und mit entsprechenden Informationen versorgen. Zum Beispiel sein älterer Sohn Donald Trump jr., Elon Musk oder auch Tucker Carlson, der eine massive Propaganda-Kampagne gegen die Ukraine fährt.
Trump setzt auf zwei unterschiedliche Verhandler für die Ukraine und für Russland. Für Kiew ist der Sonderbeauftragte Keith Kellogg verantwortlich. Für Moskau ist es Steve Witkoff, der auch für den Nahen Osten zuständig ist.
Es gibt zwei parallele Verhandlungsprozesse, was an sich kein Problem darstellt. Klar ist aber, dass die USA den Gesprächen mit den Russen mehr Aufmerksamkeit schenken. Und es ist auch nicht unproblematisch, dass Trump auf das Telefonat mit Putin beinahe euphorisch reagierte. Das Hauptproblem ist jedoch: Er schaut als Unternehmer auf Russland, nicht wie ein Politiker. Jedenfalls nicht wie ein Politiker, der sich um strategische Interessen seines Landes kümmert, geschweige denn um irgendwelche Werte.
Welche Hauptszenarien sehen Sie nach den ersten Gesprächen zwischen Russland und den USA?
Realistischerweise wäre die Fortsetzung der Verhandlungen, ein Waffenstillstand und dann mit gewissem zeitlichem Abstand die Austragung von Wahlen in der Ukraine optimal. Auch bei einem solchen Szenario gibt es Risiken, die sowohl von Moskau ausgehen als auch von Washington. Russland könnte die Legalisierung von offen prorussischen Kräften fordern. Nach der Rede von J.D. Vance in München kann man nicht ausschließen, dass die Amerikaner dem sogar zustimmen. Gemäß dem Kampf von Elon Musk um die "volle Meinungsfreiheit" kann man sich sogar die Forderung nach Aufhebung des Verbots russischer Staatspropaganda vorstellen. Hier muss man sehr aufmerksam sein.
Das Krisenszenario ist dagegen: Trump und Putin treffen sich - und stellen der Ukraine einseitige Ultimaten. Etwa den offiziellen Verzicht auf besetzte Gebiete, eine absolut rote Linie für Kiew. Wir könnten einem Waffenstillstand zustimmen, aber nicht den Donbass offiziell als russisch anerkennen. Die Ukraine würde dies kategorisch ablehnen. Die die Verhandlungen würden dann entweder abgebrochen oder in einer Sackgasse stecken. Mit Abstand am wahrscheinlichsten ist leider, dass Russland schlicht Verhandlungen imitiert und parallel seinen Krieg weiterführt.
Sie sind einer der erfahrensten ukrainischen Politikberater. Was würden Sie der ukrainischen Staatsführung raten, um die Beziehungen zu Trump zu verbessern?
Im Moment sollte man zunächst die öffentliche Polemik mit Trump einstellen. Deren Fortsetzung wird nichts bringen und lediglich zur Verstärkung der rhetorischen Aggressionen aus seinem Lager beitragen. Das beobachten wir ja bereits. Es kann auch durchaus sein, dass Trump sich beruhigt oder zu einem anderen Thema wechselt. Parallel sollte man über Vermittler versuchen, Trump die eigene Position nahezubringen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Keir Starmer werden in der kommenden Woche in Washington genau dies tun. Wichtig wäre auch, wenn jetzt Trump-nahe Staats- und Regierungschefs, die der Ukraine zugleich freundlich gesonnen sind, ihren Einfluss geltend machen. Also beispielsweise die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und Argentiniens Präsident Javier Milei.
Man sollte sich aber nichts vormachen: Die Abkühlung der ukrainischen Beziehungen zu Trump wird bleiben. Daher geht es darum, Wege zu finden, dass unser neuer wichtigster strategischer Partner, Europa, in die Verhandlungen eingebunden wird. Zusammen mit Europa sollten wir am Erhalt der strategischen Unterstützung der Ukraine arbeiten. Das ist im Interesse Europas, und davon hängt schlicht das Überleben der Ukraine ab. Und wir sollten offen dafür sein, andere Länder in die Verhandlungen einzubinden. Die Türkei wäre eine gute Variante, aber auch China könnte ab einem gewissen Zeitpunkt einsteigen. Hier sollte man angesichts der Partnerschaft mit Russland natürlich vorsichtig sein. Es ist jedoch klar, dass Peking mit Vorsicht auf die Annäherung zwischen Putin und Trump reagiert.
Sie waren bei der Sicherheitskonferenz in München. War Ihr Eindruck, dass Europa den Herausforderungen der Zeit gewachsen ist?
Ich konnte mit eigenen Augen sehen, wie geschockt die Europäer nach der Rede von J.D. Vance waren. Der estnischen Außenminister Margus Tsahkna hat die Stimmung gut zusammengefasst: Europa muss aufwachen. Es wird kein schnelles Ergebnis geben - und es gibt viele Fragen. Die Wichtigste davon ist die Finanzierung. Aber endlich gibt es das Verständnis, dass es keinen anderen Weg gibt.
Wenn es an den Ausführungen Trumps über Selenskyj überhaupt etwas Gutes gibt: Sie haben selbst seine politischen Gegner innerhalb der Ukraine wieder hinter ihm vereint. Nicht Selenskyj sei beleidigt worden, sondern die Ukraine, hört man oft. Gleichzeitig hat der ukrainische Sicherheitsrat am Abend des Trump-Putin-Gesprächs Sanktionen gegen Selenskyjs Vorgänger und politischen Intimfeind Petro Poroschenko verhängt. Musste das jetzt wirklich sein?
Ich halte das für einen emotionalen politischen Fehler. Das trägt nur zur inneren Polarisierung und zur Konsolidierung des Teils der Wählerschaft bei, der Selenskyj schon immer abgelehnt hat. In der aktuellen Situation wäre es eventuell eine gute Idee, eine technische Möglichkeit zu finden, wie man diese Entscheidung aussetzt oder gar widerruft. Das könnte Selenskyj zwar schwach aussehen lassen. Aber die Lage ist wie sie ist und Einigkeit ist tatsächlich notwendig. Es wäre angesichts der Rhetorik von Donald Trump auch an der Zeit, dass so viele parlamentarische Kräfte wie möglich einer Deklaration zustimmen, dass Wahlen während der aktiven Kampfhandlungen nicht durchgeführt werden dürfen.
Was halten Sie von einer Regierung der nationalen Einheit, wie sie aus den Reihen der Opposition mitunter vorgeschlagen wird?
Schöne Idee auf dem Papier, aber nicht in der Realität und nicht unter den aktuellen Umständen. Und abgesehen davon, dass eine konstruktive Zusammenarbeit beispielsweise zwischen Selenskyj und Poroschenko kaum vorstellbar ist: Wir kriegen das Thema Wahlen nicht mehr völlig vom Tisch. In einer Allparteienregierung würde es daher noch stärker als ohnehin um den politischen Wettbewerb gehen. Das ist in diesem Schicksalsmoment vollkommen fehl am Platz. Daher würde es mehr schaden als nutzen. Was man durchaus unternehmen könnte, ist eine Erneuerung der Regierung. Aber dann sollte es sich um ein technokratisches, unpolitisches Kabinett handeln.
Mit Wolodymyr Fessenko sprach Denis Trubetskoy
Quelle: ntv.de