Zentralrat der Juden wählt neuen Präsidenten Generationswechsel steht bevor
27.11.2010, 10:00 UhrAm 28. November wählt der Zentralrat der Juden in Deutschland einen neuen Präsidenten. Auf den Nachfolger von Charlotte Knobloch wartet viel Arbeit - und einiger Unmut.

Nach viereinhalb Jahren gibt Charlotte Knobloch den Vorsitz des Zentralrats der Juden ab.
(Foto: dpa)
Von Weichenstellung ist die Rede, von Zäsur und Wende - wenn an diesem Sonntag der Zentralrat der Juden in Deutschland zur Wahl einer neuen Spitze antritt, steht auch ein Generationenwechsel an. Mit Charlotte Knobloch gibt eine direkte Holocaust-Überlebende die Vertretung der 106.000 Gemeindemitglieder auf. Sollte Favorit Dieter Graumann zum Nachfolger gewählt werden, übernimmt erstmals ein Nachgeborener der Shoa den heiklen Job.
Für die 78-jährige Knobloch gehen bewegte viereinhalb Jahre zu Ende. Als "Schleudersitz ins Jenseits" hatte sie die exponierte Stellung genannt. Nach Paul Spiegels Tod war zunächst der Frankfurter Architekt Salomon Korn als Nachfolger im Gespräch. Doch Korn lehnte ab, weil er nicht immer Leibwächter um sich haben wollte, und blieb mit Graumann Knoblochs Stellvertreter.
Streit über Knoblochs Führungsstil
Schon im Januar hatte die Präsidentin angekündigt, dass sie für eine neue Amtsperiode nicht mehr zur Verfügung steht. Vorausgegangen war ein Streit über ihren Führungsstil - und über die Rolle, die der Zentralrat angesichts des tiefgreifenden Wandels im jüdischen Leben der Bundesrepublik einnehmen soll. Rund 15.000 Juden lebten nach dem Krieg in Deutschland, heute sind es rund 260.000 - doch weniger als die Hälfte fühlt sich den Gemeinden zugehörig.
Insgesamt 108 Gemeinden mit 23 Landesverbänden und Großgemeinden stehen unter dem Zentralrats-Dach. Von streng Orthodoxen bis zu Liberalen - das Spektrum gibt die religiöse Vielfalt des Judentums wieder. Mit der Einwanderung Zehntausender Juden aus den Ländern der einstigen Sowjetunion erlebten die Gemeinden eine Blüte.

Zu ihrem Nachfolger könnte ihr bisheriger Stellvertreter Dieter Graumann gewählt werden.
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Vor allem Berlin, mit rund 10.000 Angehörigen die größte Gemeinde in Deutschland, entstand nach dem Mauerfall ein reges jüdisches Kulturleben. In der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg und im Abraham-Geiger-Kolleg in Potsdam werden Religionslehrer, Vorbeter und Rabbiner ausgebildet. Vor wenigen Wochen wurde nach mehr als 70 Jahren wieder eine Frau als Rabbinerin in Berlin ordiniert.
Doch anders als in Sonntagsreden dargestellt, wenn gerne über die Wiedergeburt des jüdischen Lebens nach dem Massenmord der Nationalsozialisten geschwärmt wird, plagen die Gemeinden wachsende Sorgen. "Mehr als 60 Prozent unserer Mitglieder sind älter als 55 Jahre", sagt Zentralrats-Generalsekretär Stephan J. Kramer. "Wir sind jedes Jahr tausend weniger."
Protest unter den Mitgliedern
Deswegen sollen sich die Gemeinden nun verstärkt um die Jugend kümmern. "Wir müssen uns nach innen konsolidieren", sagt Kramer. Mit Initiativen, etwa der Gründung von Pfandfindergruppen und Internet-Fortbildungskursen in den Gemeindezentren, sollen jene Juden angesprochen werden, die bisher den Institutionen fernstehen.
Auch die Finanzlage hat sich zugespitzt. In Berlin kämpft etwa die Vorsitzende Lala Süsskind gegen die Insolvenz. Der Gemeinde sind die Zahlungen für die Altersvorsorge der Mitarbeiter über den Kopf gewachsen, nun soll ein Sparprogramm die drohende Pleite abwenden.
Auch unter Mitgliedern regt sich Protest. Zur Wahl am kommenden Sonntag hat das Forum für die Zukunft des Judentums in Deutschland in der "Jüdischen Zeitung" zu einer Demonstration in Frankfurt aufgerufen. Die Gruppe fordert unter anderem eine Direktwahl der Zentralrats-Führung und kritisiert, dass die Rabbiner als geistliche Autoritäten keinen Sitz im Gremium hätten.
Graumann stünde viel Arbeit bevor
Tatsächlich wird das Präsidium nicht direkt gewählt, sondern von den rund 120 Mitgliedern der Ratsversammlung als Entsandte der Gemeinden, sowie dem Direktorium, dem die Landesverbände und Großgemeinden angehören. Erst die neun Präsidiumsmitglieder wählen den Vorsitzenden aus ihrer Mitte.
Sollte der 1950 in Israel geborene Graumann, der schon als Kleinkind nach Deutschland kam, tatsächlich zum Zug kommen, steht ihm viel Arbeit bevor. Anders als Knobloch, die in den letzten Monaten verstärkt unterwegs war, muss der Frankfurter Geschäftsmann in den Gemeinden um Unterstützung werben.
"Die jüdische Erinnerung verändert sich"
Zuletzt hatte er mit seinem Protest gegen die Rede des französischen Publizisten Alfred Grosser in der Frankfurter Paulskirche am 9. November auf sich aufmerksam gemacht. Damals sprach Graumann auch von der gewandelten Bedeutung des Gedenktags an die Pogrome von 1938. Für die Juden aus der einstigen Sowjetunion sei eher der 9. Mai ein wichtiger Feiertag - als Gedenken an die Befreiung vom Nationalsozialismus 1945. "Die jüdische Erinnerung verändert sich", sagte Graumann.
Quelle: ntv.de, Esteban Engel, dpa