Politik

Historische US-Wahlschlacht Georgias Armenhaus stemmt sich gegen die Geschichte

Der Demokrat Raphael Warnock wird im Wahlkampf auch von Ex-Präsident Barack Obama unterstützt.

Der Demokrat Raphael Warnock wird im Wahlkampf auch von Ex-Präsident Barack Obama unterstützt.

(Foto: AP)

In Georgia tobt eine Wahlschlacht wie nie: Erstmals schicken sowohl Republikaner als auch Demokraten einen Schwarzen ins Rennen um den Senatssitz. Ein ehemaliger Football-Star tritt gegen den Baptisten-Pastor an, der in Martin Luther Kings Kirche predigt. Und in einem der ärmsten Countys des Bundesstaats versuchen die Menschen, die Vergangenheit zu überwinden.

Das Thermometer zeigt sommerliche 81 Grad Fahrenheit, doch in den Grashalmen am Highway 19 liegt Schnee. Es ist Erntezeit im Südwesten Georgias - was da am Straßenrand liegt, sind Baumwollflocken, die von den Ladeflächen der vorbeifahrenden Lastwagen fallen. Die Farmer bringen ihren Ertrag in die "Cotton Gins", wo lärmende Maschinen die zu riesigen Rollen zusammengepresste Baumwolle wieder auseinanderrupfen. Sie trennen die Samen vom weißen Gold, das anderswo zu Faden und Stoff weiterverarbeitet wird.

Direkt am Highway, vor dem flachen Bürogebäude der Southern Gin Company, liegen Dutzende Rollen. Die Farmer in Mitchell County haben eine sehr gute Ernte in diesem Jahr. "Es kommt alles auf einmal rein, und wir beten, dass wir bis Thanksgiving fertig werden", sagt David Griner, Leiter der Kooperative. Der 39-Jährige ist hier aufgewachsen, lebt zwei Meilen die Straße hinunter auf der Farm. Auch er baut Baumwolle an.

Wie überall in den USA finden an diesem Dienstag auch in Georgia die Kongresswahlen statt, bei denen der Senat zu einem Drittel und das Repräsentantenhaus komplett neu gewählt werden. Georgia gehört zu der Handvoll von Bundesstaaten, auf denen der Blick des ganzen Landes ruht; hier entscheidet sich, wie viel Einfluss US-Präsident Joe Biden noch haben wird. Viele Wahlkreise vermelden eine Rekordzahl an Vorabwählern.

Mindestlohn: 7,25 Dollar

"Ich denke jeden Tag an die Wahl und wie sie sich auf mich und meine Familie auswirkt", sagt David Griner eindringlich. Er wird Republikaner wählen. Er hofft dadurch auf mehr Agrarwirtschaft und Jobs im Süden. "Die erhalten unsere Städtchen Camilla und Pelham am Leben", sagt er. Die Southern Gin Company verarbeitet mit 24 Personen die Baumwollernte von mehr als 8000 Hektar von 35 verschiedenen Farmern.

Die Wähler entscheiden nach ihren Lebensumständen, und in Mitchell County, rund drei Stunden Autofahrt von Atlanta entfernt, klaffen die jeweiligen Realitäten auseinander. Da gibt es die traditionelle familiäre Landwirtschaft mit Baumwolle, Pecan- und Erdnüssen sowie eine kleine, aufstrebende Industrie. Und es gibt Menschen, die wegziehen, weil sie keine guten Jobs finden und der Staat wenig hilft. Georgia ist einer der sieben US-Bundesstaaten, in denen der Mindestlohn noch immer beim bundesweiten Minimum von 7,25 Dollar pro Stunde liegt.

Knapp über 20.000 Menschen wohnen im County, von der Bevölkerungsdichte her liegt der Bezirk im bundesstaatlichen Vergleich im Mittelfeld. Etwa ein Drittel der Einwohner lebt unter der Armutsgrenze, unter den Kindern sind es sogar die Hälfte. Nirgendwo im Bundesstaat sind es mehr als in Mitchell County. Zugleich ist offiziell nur die Hälfte der Menschen berufstätig, als arbeitsbereit werden vergleichsweise wenige geführt.

Dies deutet auf Resignation hin, oder auf andere Probleme, die nicht vom Staat oder der Wirtschaft aufgefangen werden. Eine deutliche Mehrheit der Personen unter der Armutsgrenze sind Schwarze, obwohl sie nur knapp die Hälfte der Bevölkerung ausmachen. Sozialer Aufstieg findet nur vereinzelt statt.

Diagnose: Gehirntumor

*Datenschutz

Diese Realität zeigt sich kurz vor der Kongresswahl in der Mitchell County High School, am Rande der Bezirkshauptstadt Camilla. Um eine Spende von fünf Dollar bitten die Kassiererinnen, um die Besucher zum Benefiz-Basketballspiel in die Turnhalle zu lassen. Auf den Holztribünen finden sich etwa 120 Zuschauer, darunter viele Kinder, fast alle sind schwarz. An der Wand guckt ein aufgemalter Comic-Adler mit "Mitchell County"-Muskelshirt grimmig drein.

"Ohne die Spenden und Unterstützung unserer Gemeinschaft wüssten wir nicht, was wir tun sollen", sagt Kelsee Broadway; an sie und ihre Familie gehen die Einnahmen des Spiels. Erst im September waren die 24-Jährige, ihr Partner und die drei Söhne zurück in die Heimat gezogen. Dann beobachteten sie Koordinationsschwierigkeiten und Speichelfluss bei ihrem 3-jährigen Sohn Teddrick. Die Diagnose: Gehirntumor.

*Datenschutz

Es folgten 30 Bestrahlungen, aber die Überlebensperspektive ist düster. Die Söhne sind über Medicaid abgesichert, die Basiskrankenversicherung für Kinder, eine eigene kann sich die Familie nicht leisten. Viele Ärzte und Kliniken lehnen die staatliche Versicherung ab. Selbst bezahlen können die Eltern eine Zweitmeinung nicht. Sie sind schon heilfroh, dass sie zu fünft eine Wohnung für 650 Dollar monatlich gefunden haben und nicht hungern müssen. Beide können derzeit nicht arbeiten gehen.

In der Geschichte der Vereinigten Staaten haben es bislang zwölf Schwarze in den Senat in Washington D.C. geschafft. Einer davon ist Raphael Warnock, Pastor der Ebenezer Baptisten-Kirche in Georgias Hauptstadt Atlanta, wo auch Martin Luther King predigte. Warnock setzte sich vor zwei Jahren in einer Stichwahl durch, die notwendig wurde, weil der bisherige Senator für Georgia, ein Republikaner, zurückgetreten war. In diesem Jahr ist sein Herausforderer Herschel Walker, ehemaliger American Football-Spieler und vor allem deshalb bekannt, weil er 1980 den bislang letzten Titel im College-Football mit dem Team der Universität von Georgia gewann. Nie zuvor hat es in Georgia ein Senatsrennen mit zwei schwarzen Kandidaten gegeben.

Bei den Senatswahlen in Georgia tritt Raphael Warnock (l.) gegen Herschel Walker an.

Bei den Senatswahlen in Georgia tritt Raphael Warnock (l.) gegen Herschel Walker an.

(Foto: AP)

"Meine Priorität ist derzeit mein Sohn, ich kann mich nicht viel mit Politik beschäftigen", sagt der Vater, der den gleichnamigen Teddrick auf seinem Arm hält. "Aber meine Großmutter berichtet mir viel, und wir sind alle Demokraten." Warum? "Das ist in unserer Gemeinschaft unter Schwarzen so." Kelsee Broadway macht es an Inhalten fest: Seit sie die Diagnose ihres Sohnes erhielt, ist die Einführung einer öffentlichen Krankenversicherung für sie das wichtigste Thema, danach das Abtreibungsrecht. Sie sehe sich zwar konservativer als viele in ihrer Umgebung, sei manchmal hin- und hergerissen. "Aber ich könnte niemanden wählen, der gegen das Recht auf Abtreibung ist." Beide wollen den Demokraten Warnock wählen. Walker hat lange damit Wahlkampf gemacht, Abtreibungen komplett verbieten zu wollen.

Alter Wohlstand

Ein paar Tage zuvor, in einem ehemaligen Lokschuppen in Camilla, begrüßen sich lokale Geschäftsleute im Rotary Club am Mittagsbuffet. Es gibt, typisch für die Gegend, Bohnen mit Speck, Salat mit saurer Sahne und frittiertes Huhn; der vorbeiziehende Güterzug lässt die Wände wackeln. Zum Gebet und dem Fahneneid stehen die 25 Anwesenden auf, ein Veteran wird geehrt, ein anderer ist zu Gast. Dieser präsentiert auf der Veranda seine abgerichteten Hunde, wie diese "bad guys" erkennen, sie angreifen und ihre Besitzer und deren Häuser verteidigen. "Bis zum Tod!", sagt er mit kerzengradem Rücken. Für 40.000 Dollar gebe es einen solchen "persönlichen Schutzhund". Die Anwesenden reagieren reserviert.

Unter den Mitgliedern des Clubs ist auch James Eubanks, Bürgermeister des Nachbarstädtchens Pelham, der zudem das Wirtschaftsbüro des Bezirks leitet. Nach dem Treffen bittet er in sein Büro, ein Haus weiter. Von seinem Schreibtisch aus blickt er auf einen Kamin und ins Nachbarbüro des Vertreters der Bundesstaatsregierung aus Atlanta. "Das hat manchmal Vorteile", lacht er aus seinem rundlichen Gesicht: "Ich hoffe auf mehr Anreize von oben, die Wirtschaft anlocken", sagt der 42-Jährige. Und damit auf besserbezahlte Jobs.

Vieles habe sich in den vergangenen Jahrzehnten verändert, erzählt er. Erst verschwand wegen fehlender Nachfrage der lukrative Tabakanbau, dann kamen die großen Ketten wie Walmart, gegen sie hatten die lokalen Geschäfte keine Chance. Und in den 90er Jahren trat das nordamerikanische Freihandelsabkommen NAFTA in Kraft, die Wertschöpfungskette und Jobs in der Textilindustrie brachen weg. Es war jetzt günstiger, in Mexiko zu produzieren. Von all dem hat sich der Bezirk bis heute wirtschaftlich nicht wirklich erholt, meint James Eubanks.

Doch weiterhin bestimme "alter Wohlstand" im County, sagt einer leicht abfällig, der seinen Namen nicht veröffentlicht sehen möchte. "Sie sitzen auf ihren Ländereien und geben sie nicht her." So werde von Landwirten und anderen Privatbesitzern industrielle Entwicklung verhindert. Herschel Walker, der republikanische Sentatskandidat, sei nur ein schwarzes Feigenblatt der bigotten weißen Republikaner. "Das ist kalkuliert", ist er sicher: "Der ist ein Witz, er kann noch nicht einmal reden!" Laut US-Medien hofft die Parteispitze, mit Walker mehr schwarze Wähler auf die konservative Seite zu ziehen. Auch Ex-Präsident Donald Trump unterstützt Walker offiziell.

Anhänger der Republikaner warten auf den Beginn einer Kundgebung mit ihrem Kandidaten Herschel Walker.

Anhänger der Republikaner warten auf den Beginn einer Kundgebung mit ihrem Kandidaten Herschel Walker.

(Foto: picture alliance / AA)

"Cotton is king"

Zwar ist die Landwirtschaft weiterhin wichtig - denn "Cotton is king", wie es in den Südstaaten heißt -, aber die Arbeitsplätze in der Landwirtschaft sind begrenzt. In den vergangen 20 Jahren sei die Bevölkerung deshalb um 10 Prozent geschrumpft, sagt James Eubanks. Doch seit einigen Jahren kämen Geschäfte zurück in die geplagten Kleinstädte, die lokale Industrie wachse wieder, zeigt er sich verhalten optimistisch. Der Textilhersteller Fire-Dex etwa, der seine Belegschaft im vergangenen Jahr auf mehr als 100 verdoppelt hat und seine Produktion nun bereits zum dritten Mal ausweiten wird. Die Jobs sind mit derzeit mindestens 14,50 Dollar pro Stunde sehr gut bezahlt. Auch die Inflation verändere die Expansionspläne nicht, wie der Fabrikleiter versichert.

Die Baumwolle ist noch immer König im Süden der USA - hier beim Textilhersteller Fire-Dex.

Die Baumwolle ist noch immer König im Süden der USA - hier beim Textilhersteller Fire-Dex.

(Foto: Roland Peters)

Es regt sich also etwas in Mitchell County, auch wenn der Wandel der Landwirtschaft, Globalisierungsfolgen und die Geschichte des Südens weiterhin wirken. Biden gewann in Georgia vor zwei Jahren nur hauchdünn, viele Jahrzehnte lang hatten die Republikaner dominiert. Die beiden Senatssitze wurden über eine Stichwahl entschieden, weil zum Wahltermin kein Kandidat über 50 Prozent gekommen war. Das könnte auch bei Warnock gegen Walker geschehen - und dann käme es einmal mehr darauf an, wer den längeren Atem hat.

Quelle: ntv.de

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