Grünen-Außenpolitikerin Schäfer "Was Putin antreibt, ist sein Hass auf Demokratie"
20.06.2022, 12:11 Uhr (aktualisiert)
Eine Mutter trauert Mitte April in Butscha um ihren von russischen Soldaten getöteten Sohn.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Grünen-Außenpolitikerin Jamila Schäfer zeigt sich bei ntv.de zufrieden mit dem nahenden EU-Kandidatenstatus für die Ukraine: "Das ist ein gutes Signal zur richtigen Zeit." Deutschland müsse sich aber auf einen langanhaltenden Konflikt einstellen: "Putin führt bereits einen Feldzug gegen die Demokratie in Deutschland, in anderen westeuropäischen Staaten und in den USA."
Bundeskanzler Olaf Scholz hat sich, an der Seite von Emmanuel Macron und Mario Draghi, doch noch nach Kiew begeben. Als Mitbringsel hatten die Regierungschefs im Gepäck, dass sie sich für einen ukrainischen EU-Beitrittskandidatenstatus aussprechen. Wie bewerten Sie diese Ankündigung?
Es ist gut, dass der Bundeskanzler sich nun persönlich ein Bild von der Lage gemacht und die klare Zusage für den EU-Kandidatenstatus mitgebracht hat. Die EU-Kommission hat diesen Status heute ja nun empfohlen, das ist ein gutes Signal zur richtigen Zeit. Der Ukraine ist dieser Status sehr wichtig, ohne aber eine Sonderbehandlung zu kriegen. Auch uns ist wichtig, dass wir bei dem Prozess ganz regulär auf die Einhaltung der Kopenhagener Kriterien achten, denn die EU ist kein Sportverein. Wir müssen die grundlegenden Voraussetzungen beibehalten, die es braucht, um EU-Mitglied zu werden.

(Foto: picture alliance / Geisler-Fotopress)
Jamila Schäfer ist 29 Jahre alt, hat aber schon Geschichte geschrieben: Bei der vergangenen Bundestagswahl eroberte sie im Wahlkreis München-Süd das erste Direktmandat der Grünen in Bayern. Schäfer, die ab Januar 2018 vier Jahre lang dem Bundesvorstand ihrer Partei angehörte, ist im Bundestag unter anderem Mitglied im Haushaltsausschuss und im Auswärtigen Ausschuss. Schäfer ist zudem Vorsitzende der bayerischen Landesgruppe der Grünen-Abgeordneten.
Mit seinem Bekenntnis zum EU-Kandidatenstatus der Ukraine ist Olaf Scholz unter anderem entsprechenden Forderungen der Grünen nachgekommen. Der Beitritt wird aber Jahrzehnte dauern. Wäre dem Land nicht mehr geholfen, wenn es wie von Macron vorgeschlagen Teil einer europäischen politischen Gemeinschaft würde? Die Ukraine könnte EU-Privilegien wie vollen Markzugang und Strukturhilfen bekommen, hätte aber kein Mitspracherecht und gleichen Anspruch auf EU-Mittel.
Das war ja eher ein Gegenvorschlag zur Vollmitgliedschaft. Den brauchen wir aber nicht, wenn die Ukraine nun den Kandidatenstatus bekommt. Wir sollten die Ukraine ernst nehmen, dass sie das Signal setzen will, dass das Land auf einem klaren EU-Kurs ist. Die Ukraine erlebt einen Angriffskrieg und leidet, weil sich vor ein paar Jahren einige mutige Bürgerinnen und Bürger dafür stark gemacht haben, EU-Mitglied zu werden. Weil sie die europäischen Werte Freiheit, Demokratie und Rechtstaatlichkeit auch bei sich entwickeln und leben wollten. Mit einem zügigen Kandidatenstatus nehmen wir diesen Wunsch ernst.
Erstmal ist die Ankündigung vor allem symbolischer Natur. Braucht die Ukraine in der akuten Situation nicht vor allem handfeste Hilfe wie Geld und Waffen?
Es ist extrem wichtig, dass wir unsere finanzielle und militärische Unterstützung der Ukraine verstetigen und auch noch einmal verstärken. Wir müssen die ukrainische Armee befähigen, ihre Bevölkerung und das Land über lange Distanz gegen die russische Invasion zu verteidigen. Dazu braucht die Armee Artillerie, die wir ihr nun endlich liefern. Es geht aber nicht nur um finanzielle Hilfen und Waffenlieferungen. Das Land braucht zum Beispiel Batterien und Powerbanks. Ich habe von der ukrainischen Front erfahren, dass Menschen verblutet sind, weil sie ihre Handys nicht aufladen und Hilfe rufen konnten. Das ist nur ein Beispiel von vielen, wie wir dort Menschenleben retten können.
Niemand ihrer westlichen Partner will der Ukraine vorschreiben, wie sie sich zum russischen Überfall verhalten soll. Gibt es eine Tendenz, dass allein die Regierung in Kiew bestimmt, wie unsere Solidarität auszusehen hat?
Nein. Wir haben bei der Frage der Luftraumsicherung ja auch klar gesagt: Es tut uns leid, das können nicht machen, weil wir nicht selbst Kriegspartei nach völkerrechtlicher Definition werden wollen. Da gab es nachvollziehbar Enttäuschung aus Kiew. Trotzdem halte ich die Entscheidung für richtig. Wir müssen also jede ukrainische Forderung für uns selbst prüfen. In der konkreten Frage des EU-Beitritts ist es aber meine Überzeugung, und auch die der Bundesregierung, dass wir den Kandidatenstatus zubilligen sollten, ohne die Beitrittskriterien zu schleifen.
Außer Scholz hat beinahe jedes Regierungsmitglied gesagt, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen muss. Der Bundeskanzler sagt, sie dürfe ihn nicht verlieren. Ist dieser Unterschied noch von Bedeutung?
Man kann viel über Formulierungen streiten. Das Wichtigste ist, da sind wir uns alle einig, dass Putin mit seiner Strategie nicht erfolgreich sein und es keine Verhandlungen über den Kopf der Ukraine hinweg geben darf. Putin darf nicht ermutigt werden, weiterzumachen, sondern muss durch die Verteidigungsfähigkeit der Ukraine an den Verhandlungstisch gezwungen werden, wo die Ukraine dann für sich selbst spricht. Je einfacher Putin Fortschritte an der Front macht, desto teurer werden wir sie in Europa später bezahlen müssen.
Wenn die Ukraine aber allein bestimmt, was ihre Kriegsziele sind, unterscheiden die sich womöglich von denen ihrer westlichen Partner, die überwiegend zu den Grenzen von Mitte Februar zurückwollen. Müssen wir auch eine militärische Rückeroberung des Donbass oder der Krim unterstützen, wie es Teile der Regierung in Kiew fordern?
Dieser Angriffskrieg zerrüttet die völkerrechtliche Ordnung, die uns seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa den Frieden gesichert hat. Auch deshalb unterstützen wir die Ukraine. An der Ukraine werden Kriegsverbrechen verübt, weil Putin es als Angriff auf sich und Russland versteht, dass sich dieses souveräne Land weiter demokratisiert. Es ist für uns - bis zu einer roten Linie wie etwa der Durchsetzung einer Flugverbotszone - eine völkerrechtliche Verpflichtung, die Ukraine mit allem Notwendigen zu unterstützen, das wir leisten können.
Und aus dieser Prämisse folgt, alles zu unterstützen, was die Regierung in Kiew militärisch unternimmt?
Natürlich wird über den Frieden am Ende in Verhandlungen entschieden. Was dann an Gebieten wo hinfällt, kann und will ich nicht vorwegnehmen. Ich glaube aber, dass wir uns zu sehr auf diese territorialen Fragen fokussieren, weil es Putin gar nicht so sehr darum geht. Er wird sich nicht mit ein bisschen mehr Ostukraine zufriedengeben. Es geht ihm um eine langfristige Destabilisierung. Das stoppen wir nur mit Zusammenhalt und Entschlossenheit, nicht mit Nachsicht und Naivität. Das ist die einzige Sprache, die Putin versteht.
Das Land geht bald kollektiv in die Sommerferien, um nach zweieinhalb Jahren Pandemie endlich einmal durchzuatmen. Muss sich Deutschland nicht viel stärker darauf einstimmen, sich in einem dauerhaften Konflikt mit der neo-imperialistischen Atommacht Russland zu befinden?
Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir uns vorstellen, es würde nicht so schlimm kommen. Wir haben in Deutschland auch lange gehofft, dass enge wirtschaftliche Beziehungen, zum Beispiel mit Nord Stream 2, eine Eskalation unwahrscheinlich machen. Wir wurden eines Besseren belehrt, wie auch schon bei der Annexion der Krim 2014. Was Putin offenbar antreibt, ist ein Hass auf die Demokratie und politische Selbstbestimmung des einzelnen Menschen. Die Ukraine wird nun dafür bestraft, sich den demokratischen Ländern Europas angenähert zu haben. Unser Verhalten, unsere Unterstützung entscheiden mit darüber, ob Putin dieses Exempel statuieren kann - und ob unsere Enkelkinder noch in einer Welt mit freien, demokratischen Staaten leben können, in der das Völkerrecht noch akzeptiert wird.
Welche Rolle kommt in diesem abstrakten Ringen der Systeme den einzelnen Bürgerinnen und Bürgern zu?
Wir müssen uns auch persönlich robust machen gegen diese Desinformation, auch gegen die psychologische Kriegsführung, die Putin betreibt. Er baut darauf, dass wir irgendwann keine Kapazitäten mehr haben, uns noch mit diesem Krieg zu beschäftigen, weil uns ja jetzt schon so viele Krisen belasten und beschäftigen. Aber gerade zur Lösung dieser vielen Krisen müssen wir die Vorteile einer demokratischen Gesellschaft für mehr Menschen erfahrbar machen. Mit Blick auf die hohe Inflation braucht es soziale Entlastungen für die Menschen. Sie müssen in einer demokratischen Gesellschaft ein gutes Leben führen können, sonst wird die Angriffsfläche noch größer für autoritäre Politiker, wenn der Frust steigt. Unterstützung für die Ukraine und soziale Gerechtigkeit in Deutschland gehören deshalb zusammen und nicht gegeneinander ausgespielt.
Sie sind eine von 16 direkt gewählten Abgeordneten der Grünen. Was sagen Sie den Menschen in Ihrem Wahlkreis, die fürchten, der Krieg könne nach Deutschland kommen?
Putin ist nicht irrational, wie häufig behauptet wird, er plant keinen Angriffskrieg gegen Deutschland oder Frankreich. Er wird und kann auch keine strategischen Atomwaffen einsetzen, solange Russland nicht in seiner Existenz bedroht ist. Es vernebelt den Blick, in solchen Horrorszenarien zu denken oder immer wieder von ihnen zu reden. Nichtsdestotrotz müssen wir uns darauf einstellen, dass Putin nicht nur die Ukraine einnehmen will. Und wir dürfen auch nicht vergessen, dass Russland uns seit Jahren angreift: Putin führt bereits einen Feldzug gegen die Demokratie in Deutschland, in anderen westeuropäischen Staaten und in den USA - durch Desinformation, durch Cyberangriffe und durch die Unterstützung rechtsradikaler Parteien und Politiker wie der AfD, Marine Le Pen in Frankreich oder Donald Trump. Wir haben als Gesellschaft noch nicht genügend Antworten gefunden, wie wir uns gegen solche Angriffe wehren. Es ist an der Zeit, das zu ändern.
Mit Jamila Schäfer sprach Sebastian Huld
(Dieser Artikel wurde am Freitag, 17. Juni 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de