Was taugt Sicherheitsstrategie? Gute Analyse, kein Plan
14.06.2023, 19:35 Uhr Artikel anhören
Am Tag der Präsentation der Sicherheitsstrategie wurde Einigkeit demonstriert. Auf dem Weg dorthin gab es viel Gerangel.
(Foto: picture alliance/dpa)
Seit heute hat Deutschland seine erste Nationale Sicherheitsstrategie. Ein gutes Lagebild, sagen Kritiker. Was sie vermissen, sind Konsequenzen. In wichtigen Punkten bedeutet das Papier gar einen Rückschritt gegenüber schon erklärten Zielen.
"Es wird anders sein, als wir es gewohnt waren", sagt der Kanzler, da ist die Präsentation gerade am Ende angelangt. Mit Blick auf die erste Nationale Sicherheitsstrategie Deutschlands, die Olaf Scholz soeben vorgestellt hat, ist das ein guter Satz. Er drückt nochmals den Willen zum Wandel aus. Doch genau der kommt nach Ansicht vieler Kritiker zu kurz.
Dass diese Strategie als Meilenstein gedacht ist, zeigt Scholz schon, indem er sich von vier Ministerinnen und Ministern flankieren lässt, deren Häuser etwas beizutragen hatten zu dem 76 Seiten starken Papier unter der Überschrift "Integrierte Sicherheit für Deutschland". Der 24. Februar 2022 hat nicht den Impuls dazu gegeben, die Ampel-Koalition hatte das Ziel, eine solche Sicherheitsstrategie zu entwickeln, schon zu Beginn ihrer Regierungszeit festgeschrieben. Und schon damals wollte die Bundesregierung weg von einem Sicherheitsverständnis, das sich rein auf die Frage fokussierte: "Was geben wir denn im kommenden Jahr für die Bundeswehr aus?" (Spoiler: zu wenig)
Über Nacht traten die Fehler hervor
Doch hat damals wohl kaum jemand erwartet, wie sehr Deutschland dieser Fokus, dieser enge Blick, wenige Wochen später auf die Füße fallen würde: Mit der Invasion Wladimir Putins in der Ukraine trat über Nacht glasklar hervor, wie falsch es gewesen war, jahrelang etwa die russische Annexion der Krim zwar zu verurteilen, doch zugleich den Bau einer weiteren Gas-Pipeline aus Russland zuzulassen, ein rein "privatwirtschaftliches Vorhaben", wie Kanzler Scholz erklärte, zwei Monate bevor die Panzer auf Kiew rollten.
Die völlige Trennung von Sicherheitsaspekten und Wirtschaftsinteressen, von Notwendigkeiten des Klimaschutzes und medizinischer Versorgung war in Deutschland über Jahrzehnte Programm und die Ampelkoalition hat diese Politik als falsch analysiert. Die Kehrtwende dessen, nämlich ein Verzahnen all dieser Aspekte, zieht sich nun als roter Faden durch Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie - "Wehrhaft", "Resilient", "Nachhaltig" lauten die drei Themenblöcke.
Doch ergibt sich aus der Bereitschaft, bei jedem Sachverhalt auch noch fünf andere Aspekte mitzudenken, die darauf Einfluss haben oder davon beeinflusst werden, die Gefahr, dass man vor lauter Abwägung in die "Einerseits - andererseits"-Falle tappt. So wird Außenministerin Annalena Baerbock bei der Pressekonferenz nicht müde, auf die enorme Komplexität der Problematiken zu verweisen. Nur entbindet das nicht von der Notwendigkeit, am Ende zu einem Ergebnis zu kommen. In den meisten Sicherheitsfragen: zu einer Priorisierung.
Ist es wichtiger, China für seine Drohgebärden Richtung Taiwan zu kritisieren oder mit China Geschäfte zu machen oder muss man China vor allem für Klimaschutzziele mit ins Boot holen? "China ist Handelspartner, aber Werterivale", fasst Finanzminister Christian Lindner die Analyse aus der Sicherheitsstrategie zusammen. Die Frage ist: Was folgt daraus?
Was sind die Prioritäten?
Zwar ist ein weiteres Strategiepapier mit besonderem Fokus auf China angekündigt, doch wird das wohl noch einige Zeit dauern. "Gleichzeitig arbeitet die Europäische Union auf ihrem Gipfel im Juni an einer europäischen China-Strategie", erklärt Jürgen Hardt, Außenpolitischer Sprecher der Unionsfraktion. "Der Kanzler muss auf diesem Gipfel eine deutsche Position vertreten, ohne dass es eine solche abgestimmt und reflektiert bereits gibt."
Dass nicht nur mit Blick auf China, sondern nahezu flächendeckend Direktiven und Konsequenzen in der Sicherheitsstrategie fehlen, wurde vorher befürchtet und wird jetzt bemängelt. "Strategie würde es doch dadurch, dass man auch Aussagen darüber trifft, welcher Faktor denn wichtiger ist als andere", sagt Sicherheitsexperte Nico Lange. Weil man am Ende ja auch die Frage beantworten müsse: Wofür wendet man wie viele Ressourcen auf? "Diese Art von Priorisierung habe ich bisher nicht erkennen können." CDU-Mann Hardt stellt fest: "An Analyse mangelt es ja nicht, sondern es mangelt an konkreter Umsetzung einer Strategie."
Laut Experte Lange, Senior Fellow der Zeitenwende-Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz, liegt ein solcher Mangel an Direktiven durchaus nicht in der Natur der Sache. "Wenn man sich den National Defense Review in Großbritannien anschaut und seine Fortschreibung, ist dort wesentlich konkreter und auch in Bezug auf unterschiedliche Regionen der Welt stärker ausbuchstabiert, was das Vereinigte Königreich tun will."
Was tun? - angesichts der aktuellen Weltlage eine anspruchsvolle Frage. Doch die Antwort darauf verweigert das Konzeptpapier auch an Stellen, wo sie etwa vom Kanzler in der Vergangenheit schon sehr viel konkreter gegeben wurden. In seiner viel beachteten Zeitenwende-Rede, drei Tage nachdem der russische Einmarsch begonnen hatte, stellte Olaf Scholz in Aussicht, das Zwei-Prozent-Ziel der NATO "ab jetzt" zu erfüllen.
Viele, die zuhörten, auch die Unionsfraktion, verstanden den Bundeskanzler damals so, dass die zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Wehretat abgebildet würden. "Dass die 100 Milliarden Euro Sondervermögen hinzuaddiert werden", sagt Hardt. "Dem hat die Bundesregierung auch nie widersprochen." In der Sicherheitsstrategie liest sich das nun anders.
Es fehlt an der Schlussfolgerung
"Zunächst auch durch das neu geschaffene Sondervermögen Bundeswehr werden wir im mehrjährigen Durchschnitt unseren 2%-BIP-Beitrag zu den NATO-Fähigkeitszielen erbringen", steht dort und das lässt Hintertüren in gleich mehrfacher Hinsicht offen. "Zu schreiben, 'wir erbringen den Beitrag temporär und im Durchschnitt' ist eben etwas anderes als zu schreiben: Wir machen das jetzt", sagt Lange. Eine langfristige Festlegung, die der Bundeswehr erlauben würde zu planen, und die Partner wissen ließe, dass auf Deutschland Verlass ist, leistet die Sicherheitsstrategie nicht. Der Sicherheitsexperte befürchtet Enttäuschung bei den NATO-Partnern.
Und fehlt es in dem Papier immer wieder am Konkreten, an der Schlussfolgerung, so vermissen viele Experten bei der Nationalen Sicherheitsstrategie auch den strukturellen Unterbau. Auf einen Nationalen Sicherheitsrat, wie von der FDP gefordert, konnte sich die Ampel wegen Kompetenzgerangels nicht einigen. Und Ministerin Baerbock verweist darauf, dass im vergangenen Jahr das "Sicherheitskabinett" in kritischen Momenten vertrauensvoll zusammengearbeitet und schnell entschieden habe.
Nur reicht es in relevanten Sicherheitsfragen nicht, in Krisen gut zu reagieren, sondern nötig ist, ständig und präventiv zu arbeiten. Aufgaben, die nach Ansicht sehr vieler Experten ein Sicherheitsrat erfüllen könnte. Der hätte dafür Mittel und Kompetenzen und würde zudem relevante Fragen mit mehr Nachdruck in die Öffentlichkeit bringen. Daraus kann sich Unterstützung der Bevölkerung ergeben, gerade wenn es anstehen würde, Prioritäten von anderen wichtigen Aufgaben hin zur Sicherheitspolitik zu verschieben.
"Die Nationale Sicherheitsstrategie ist nicht Endpunkt, sondern Anfangspunkt", sagt Kanzler Scholz, und da werden ihm viele Expertinnen und Experten beipflichten. Ein erster Schritt ist getan, ausreichend jedoch scheint das nicht, und das Weltgeschehen wird nicht warten. "Die Strategie Deutschlands verändert sich viel langsamer als es eigentlich notwendig wäre nach der Zeitenwende", bilanziert Nico Lange, "in Bezug auf die Bereitschaft, klar seine Interessen zu formulieren, Prioritäten zu setzen und mehr Ressourcen aufzuwenden für das harte Ende der Sicherheit."
Quelle: ntv.de