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Historiker Kashi im Interview "Viele Israelis sind traumatisiert und kriegsmüde"

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300 Tage nach dem Hamas-Massaker besuchen Menschen den Ort des Nova-Festivals, wo viele Besucher ermordet oder entführt wurden.

300 Tage nach dem Hamas-Massaker besuchen Menschen den Ort des Nova-Festivals, wo viele Besucher ermordet oder entführt wurden.

(Foto: REUTERS)

Israel hat mehrere hochrangige Terroristen getötet, der Iran kündigt "Vergeltung" an. Aber die Pläne Teherans seien "schwer vorhersehbar", sagt der israelische Historiker Uriel Kashi im Interview. Er spricht über die Vorbereitung auf einen möglichen Angriff, die Rolle der Hisbollah - und den Kurs von Premier Benjamin Netanjahu.

ntv.de: Erwarten Sie einen größeren Angriff des Iran und seiner Verbündeten als im April?

Uriel Kashi: Der Angriff im April war bereits äußerst massiv, mit Hunderten Drohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen, die innerhalb kürzester Zeit auf Israel abgefeuert wurden. Dieser Angriff hätte weitaus schwerwiegendere Folgen haben können ohne das hochentwickelte israelische Raketenabwehrsystem, insbesondere die Arrow-3- und David's-Sling-Systeme, die teilweise erstmals zum Einsatz kamen. Hinzu kam die Unterstützung der befreundeten US-amerikanischen, britischen, französischen und jordanischen Luftstreitkräfte.

Wie haben Sie diesen Angriff erlebt?

Zunächst hatten wir große Angst, da der Iran über wesentlich größere militärische Kapazitäten verfügt als Gruppen wie die Hisbollah oder die Hamas. Die Armee hatte uns im Vorfeld gewarnt, dass es in der Nacht zu einem massiven Beschuss kommen würde, weshalb wir wach geblieben sind. Um 2 Uhr ertönte der Raketenalarm und wir begaben uns schnell in unseren Schutzraum im Keller. Der Lärm des Abwehrsystems war ohrenbetäubend, so etwas habe ich noch nie erlebt. Nachdem Entwarnung gegeben wurde und klar war, dass keine Raketensplitter mehr fallen würden, gingen wir wieder nach Hause und versuchten zu schlafen.

Was erwarten Sie nun von der angekündigten "Vergeltung" Teherans und verbündeter Milizen?

Die aktuellen Pläne des Iran sind schwer vorhersehbar. Theoretisch könnte es wieder einen massiven Raketenbeschuss geben. Aber viele Analystinnen und Analysten rechnen mit einer überraschenderen Aktion. Das könnte der Versuch der gezielten Ermordung eines hochrangigen Politikers oder Militärs sein, oder die Zerstörung einer Förderplattform bei einem der Erdgasfelder. Auch eine großangelegte Cyberattacke ist denkbar.

Der Historiker Uriel Kashi lebt in Jerusalem und arbeitet als Referent und Reiseleiter. Er organisiert und begleitet etwa politische Studienreisen für Stiftungen, Universitäten und Journalistengruppen durch Israel.

Der Historiker Uriel Kashi lebt in Jerusalem und arbeitet als Referent und Reiseleiter. Er organisiert und begleitet etwa politische Studienreisen für Stiftungen, Universitäten und Journalistengruppen durch Israel.

(Foto: Privat)

Erwarten Sie eine weitere Eskalation hin zu einem Krieg gegen die Hisbollah im Libanon?

Diese Formulierung ist etwas irreführend, da wir uns bereits in einem Kriegszustand befinden. In den vergangenen Wochen hat die Hisbollah Israel nahezu täglich mit Dutzenden Raketen beschossen. Zehntausende Bewohner im Norden Israels, darunter fast 24.000 Menschen aus der Stadt Kiryat Shmona, wurden nach dem 7. Oktober aus der Grenzregion gebracht und konnten nicht in ihre Wohnungen zurückkehren. Gleichzeitig hat Israel Stellungen der Hisbollah beschossen, was ebenfalls zu massiven Evakuierungen im Süden des Libanons führte.

Dennoch wird von einem Krieg auf "kleiner Flamme" gesprochen, da beide Seiten darauf achten, dass die Angriffe keine allzu großen Schäden verursachen. Der Libanon selbst ist ganz unabhängig von dem Konflikt mit Israel wirtschaftlich und politisch stark angeschlagen. Dort gibt es viele Stimmen, die der Hisbollah deutlich zu verstehen geben, dass man keinesfalls einen großen Krieg riskieren möchte.

Welche Rolle spielt die Hisbollah denn für den Iran?

Wir gehen davon aus, dass der Iran die Hisbollah hauptsächlich als Abschreckung gegen mögliche Angriffe auf sein Atomprogramm nutzen möchte. Eine derzeitige Schwächung der Hisbollah durch einen großangelegten Krieg wäre für den Iran daher ungünstig. Nichtsdestotrotz bleibt die Lage angespannt, wie der Raketenangriff der Hisbollah am 27. Juli gezeigt hat. Dabei wurden zwölf Kinder und Jugendliche im drusischen Dorf Majd al-Shams getötet. Es ist unwahrscheinlich, dass dies absichtlich geschah. Doch Israel war gezwungen, zu reagieren. Die gezielte Tötung von Fuad Schukr, einem führenden Terroristen und engen Berater von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah, war ein klares Signal, sich zurückzuhalten. Doch gerade fehlgeleitete Angriffe wie jener der Hisbollah können den Konflikt schnell eskalieren lassen, auch wenn beide Seiten kein Interesse daran haben.

Gibt es in der israelischen Bevölkerung die Bereitschaft, einen größeren Krieg in Kauf zu nehmen?

Die Angst vor einem größeren Krieg gegen die Hisbollah ist groß. Ein solcher Konflikt wäre mit erheblichen Verlusten verbunden, da die Hisbollah über weit fortgeschrittenere Waffensysteme verfügt als die Hamas im Gazastreifen. Die israelische Abwehr könnte an ihre Grenzen kommen und kritische Infrastruktur wie Strom- und Wasserversorgung sowie Telekommunikation zerstört werden. Ein größerer Krieg könnte auch auf israelischer Seite Tausende Todesopfer fordern. Die Bereitschaft, eine weitere Eskalation in Kauf zu nehmen, besteht allerdings dann, wenn das Überleben des Staates Israel auf dem Spiel steht. Und die Bedrohung durch die sogenannte iranische Achse wird als existenziell empfunden.

Israel ist in höchster Alarmbereitschaft - wie wirkt sich das auf das Leben der Menschen aus?

Die allgemeine Stimmung ist angespannt. Zahlreiche Flüge von und nach Israel wurden storniert, Reservisten werden erneut in die Armee einberufen. Viele Israelis sind traumatisiert und kriegsmüde, sie wünschen sich ein Ende dieses Krieges. Diese Entscheidung liegt jedoch nicht nur bei der israelischen Führung, sondern auch bei der Hamas, der Hisbollah und dem Iran. Dennoch versuchen viele Menschen in Israel, ihren Alltag so normal wie möglich zu gestalten. So waren die Strände von Tel Aviv gestern tagsüber immer noch gut besucht, abends allerdings viel leerer als gewöhnlich.

Und wie bereiten sich die Menschen auf mögliche Angriffe aus dem Iran und von Milizen vor?

Die Vorbereitungen sind vielfältig. In den Luftschutzbunkern wurde längst Platz geschaffen und sie wurden mit Lebensmitteln und Trinkwasser ausgestattet. Manche Familien haben sich kleine Stromgeneratoren und batteriebetriebene Radios angeschafft, um im Falle eines Internetausfalls informiert zu bleiben.

Wie groß ist der Rückhalt in der Bevölkerung für den Kurs von Premierminister Benjamin Netanjahu?

Das Vertrauen in den Premierminister ist auf einem Tiefpunkt. Viele Menschen zweifeln daran, dass seine Entscheidungen im besten Interesse der Bevölkerung sind. Vielmehr sehen sie darin Versuche, seine eigene politische Position zu sichern. Normalerweise herrscht in Kriegszeiten eine gewisse Einigkeit, aber die fortlaufenden Großdemonstrationen für Neuwahlen zeigen eine tiefe Frustration in der Bevölkerung.

Welche Auswirkungen hatte es, als Oppositionspolitiker Benny Gantz im Juni das Kriegskabinett verlassen hat?

Ein besorgniserregender Trend ist der wachsende Einfluss rechtsradikaler Parteien auf die israelische Politik. Ein markantes Beispiel für diesen Einfluss war die Erstürmung der Militärbasis Beit Lid durch israelische Rechtsradikale, wo sich neun israelische Soldaten, denen die Misshandlung palästinensischer Häftlinge vorgeworfen wird, vor einem Militärgericht verantworten müssen. Dass auch Regierungsmitglieder an dieser Erstürmung beteiligt waren und damit das israelische Justizsystem untergruben, ohne Konsequenzen zu erfahren, unterstreicht die Schwäche Netanjahus innerhalb seiner eigenen Koalition.

Nimmt Netanjahu bewusst eine Eskalation in Kauf?

Das Problem besteht nicht nur darin, dass Netanjahu eine Eskalation in Kauf nimmt, sondern auch darin, dass er mögliche Lösungsansätze für eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen blockiert. Israel kann den Kampf gegen die "iranische Achse" nicht alleine bestehen. Es bedarf dabei einer engen Zusammenarbeit mit westlichen und pragmatischen arabischen Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten und den kleineren Golfstaaten. Die kategorische Ablehnung der Zwei-Staaten-Lösung durch einen Knesset-Beschluss im vergangenen Monat belastet die Beziehungen zu wichtigen Verbündeten, insbesondere den USA, wo immer mehr junge Menschen die enge Bindung an Israel infrage stellen. Solche Beschlüsse verhindern auch ein verstärktes Engagement von Staaten wie Saudi-Arabien, das bei der Etablierung einer neuen Sicherheitsordnung in der Region eine wichtige Rolle spielen könnte.

Welche Rolle spielt derzeit die Geiselbefreiung in der öffentlichen Debatte?

Die Geiselbefreiung ist ein zentrales Thema der öffentlichen Debatte in Israel. Die entführten Geiseln sind allgegenwärtig, ihre Bilder finden sich an Bushaltestellen, in Schaufenstern, an Gartenzäunen und Schulwänden. Da Israel ein kleines Land ist, fühlt sich fast jeder persönlich betroffen. Oft kennt man jemanden, der indirekt betroffen ist. Die Hoffnung, möglichst viele der Geiseln lebendig zurückzubringen, wird somit als moralische Verpflichtung empfunden.

Und ist dies auch realistisch?

Die Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln sind äußerst komplex und intransparent. Netanjahu beschuldigt die Hamas, mit unrealistischen Forderungen einen Waffenstillstand zu verhindern. Gleichzeitig wird ihm von den USA und selbst innerhalb seiner eigenen Regierung vorgeworfen, immer neue Hindernisse zu schaffen, um ein Abkommen mit der Hamas zu verhindern. Trotz der schwierigen Verhandlungslage ist eine Mehrheit der Israelis bereit, einem Abkommen zur Freilassung der Geiseln zuzustimmen, auch wenn dies unter anderen Umständen möglicherweise nicht akzeptabel wäre.

Zuletzt kam die Debatte über einen militärischen Beistand Deutschlands für Israel auf - wie könnte dieser aussehen?

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Israel befindet sich in einer existenziellen Bedrohungssituation. Ich persönlich empfinde es als legitim und sogar richtig, Druck auf die israelische Regierung auszuüben, um mehr Kompromissbereitschaft gegenüber den Palästinensern zu zeigen, beispielsweise durch Sanktionen gegen radikale israelische Siedler im besetzten Westjordanland. Gleichzeitig ist es notwendig, Israel im Kampf gegen die Bedrohung durch Iran und seine islamistischen Verbündeten zu unterstützen. Diese Unterstützung könnte auch militärisch erfolgen, um Israel in seiner Verteidigung zu stärken.

Die Fragen stellte Markus Lippold

Quelle: ntv.de

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