"Die Armen zuerst", sagt Mexiko Historischer Optimismus macht Sheinbaum zur Präsidentin


Claudia Sheinbaum: Ein Herz nach ihrem Wahlsieg
(Foto: IMAGO/Eyepix Group)
Mexikos Wirtschaft wächst, der linke Präsident Obrador stärkt in den vergangenen Jahren insbesondere die unteren Einkommensschichten. Hoffnung auf eine goldene Zukunft greift um sich - und spült seine designierte Nachfolgerin per Erdrutschsieg ins Amt.
"Ich werde Sie nicht enttäuschen", versichert die baldige Präsidentin Mexikos auf dem Zócalo der jubelnden Menge. In der Nacht zu Montag feiert Claudia Sheinbaum auf der großen Plaza im Herzen der Hauptstadt ihren Erdrutschsieg. Einen historischen, nicht nur, weil das mutmaßliche Land des Machismus bald erstmals von einer Frau regiert werden wird. Auch wegen der Art ihres Erfolges: Fast 60 Prozent der Wählenden stimmten für die 61-Jährige und ihre linke Koalition. 26 von 35 Bundesstaaten entschieden sich mit mehr als 15 Punkten Vorsprung für die Naturwissenschaftlerin. Dazu kommen eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Repräsentantenhaus und eine komfortable im Senat.
Mexiko votierte für Sheinbaum und damit auch für die Politik des Noch-Staatschefs Andrés Manuel López Obrador. Der abgekürzt AMLO genannte Präsident hatte Sheinbaum als seine gewünschte Nachfolgerin abgesegnet. Seine Regierung paart das Wachstum mit einer aktiven Sozialpolitik, was sich deutlich in den Geldbeuteln der Wähler bemerkbar macht. Die Wirtschaft wächst und der historisch ärmere Süden mehr als das restliche Land. Sheinbaum, die frühere Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt, sagt, sie wolle diese Politik fortführen. Dabei sind insbesondere die ausufernde Gewalt und die Folgen der Klimaerwärmung gigantische Herausforderungen, auch sieht sie sich einem deutlichen Haushaltsdefizit gegenüber.

Der scheidende Präsident Andrés Manuel López Obrador zeigt nach seiner Stimmabgabe seinen Ausweis.
(Foto: AP)
In seiner fast sechsjährigen Amtszeit- die Verfassung erlaubt keine Wiederwahl - hat AMLO es Angestellten und Arbeitern erleichtert, sich unabhängigen Gewerkschaften anzuschließen. Der Mindestlohn hat sich mehr als verdoppelt, die Zahl der Urlaubstage wurde erhöht, die Regierung weitete die Rentenzahlungen aus und im ärmeren Süden drückte AMLO gegen alle Widerstände den Bau von zwei Zuglinien durch, die äußerst wichtig für Tourismus und Handel sind. Der Präsident vertritt seine Politik zudem sehr offensiv und in einer Sprache, die auch für bildungsfernere Schichten verständlich ist. Kritiker werfen ihm vor, er fördere mit linkem Populismus ein "Wir gegen die Elite"-Gefühl im Land.
Mexikaner voller Hoffnung für die Zukunft
Der Präsident hatte im Jahr 2011 seine sozialdemokratische Partei "Movimiento Regeneración Nacional" (Morena) gegründet, und erreichte seit Amtsantritt Ende 2018 insbesondere für die unteren Einkommensschichten spürbare Veränderungen. "Die Armen zuerst", war sein Wahlwerbespruch. Sheinbaum nutzt ihn ebenfalls. In AMLOs Amtszeit verringerte sich die Armutsrate laut den letzten verfügbaren Zahlen aus dem Jahr 2022 um 5,6 Punkte auf 36,3 Prozent.
Der Optimismus ist messbar und historisch groß. Im vergangenen Jahr sagten fast drei Viertel der Mexikaner, sie erwarteten eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen. Vor AMLOs Präsidentschaft waren es - seit Beginn der Erhebung vor zwei Jahrzehnten - stets weniger als die Hälfte gewesen. Das Vertrauen in die Regierung erreichte 61 Prozent, ebenfalls ein Rekordwert. Die größten Probleme bleiben die tödliche Gewalt und Kriminalität.
Mexiko ist womöglich vor Kanada der bedeutendere der beiden Nachbarn für die USA. Erstens, weil das Land noch vor China der wichtigste Außenhandelspartner der USA ist. Zweitens, da Mexiko als Teil des Problems illegaler Einwanderung über die US-Südgrenze der logische Verbündete für Migrationssteuerung sein kann. Anfang 2019 hatte der damalige US-Präsident Donald Trump - trotz jahrelanger Tiraden gegen den Nachbarn- mit AMLO "Remain in Mexiko" vereinbart. Migranten, die aus dem Süden gekommen waren und Asyl beantragten, mussten jenseits der Grenze auf ihren US-Gerichtstermin warten, nicht in den Vereinigten Staaten.
Diese Regelung wird inzwischen nicht mehr angewendet, aber auch mit US-Präsident Joe Biden arbeitete AMLO in Grenzfragen zusammen. Denn was in Mexiko geschieht, hat direkten Einfluss auf die Politik in Washington. Wirtschaft und Einwanderung gehören zu den wichtigsten Themen für die US-Wähler, und beide großen Parteien haben sich auf die Fahnen geschrieben, aus politischen Gründen nach Alternativen zum Billigimport-Wahnsinn aus China zu fahnden.
Großeltern aus Osteuropa geflohen
Sheinbaum ist die Enkelin europäischer Juden. Ihre Großmutter mütterlicherseits und ihr kommunistischer Großvater väterlicherseits flohen aus Litauen und Bulgarien, um der Verfolgung durch die Nazis zu entgehen, wie sie in der Zeitung "La Jornada" schrieb. Politik begleitet Sheinbaum eigener Aussage zufolge schon ihr Leben lang. "Zu Hause sprachen wir morgens, mittags und abends über Politik", wird sie in einer kürzlich erschienenen Biografie zitiert. Ihre Eltern waren in der 1968er Studentenbewegung aktiv, die sich gegen die jahrzehntelange Herrschaft der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) engagierte.
Sie selbst war neben ihrem Physikstudium und Promotion in Energietechnik politisch aktiv. Vier Jahre lang forschte sie für ihre Doktorarbeit im kalifornischen Stanford. Sheinbaum kennt AMLO schon lange. Als er Bürgermeister von Mexiko-Stadt war, machte er sie zum Chef des Umweltressorts. Mit verbessertem öffentlichem Nahverkehr und Fahrradwegen versuchte sie, gegen den gesundheitsgefährdenden Smog anzugehen, der sich häufig wie ein Schleier über die Metropole legt. Mexiko-Stadt liegt rund 2200 Meter über dem Meeresspiegel, der Sauerstoffgehalt ist ohnehin schon ein Viertel geringer als im Tiefland.
Als Sheinbaums Zeit in der Stadtregierung 2006 endete, kehrte Sheinbaum an die Universität zurück und wurde Mitglied des Weltklimarats, der 2007 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Ihr Fachgebiet war die Eindämmung des Klimawandels. Während ihrer Zeit als Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt in den Jahren 2018 bis 2023 musste sie den tödlichen Einsturz einer U-Bahn-Brücke bewältigen. Auch die Corona-Pandemie entwickelte sich zur Katastrophe: In kaum einer Region der Welt war die Sterblichkeitsrate so hoch wie in der Hauptstadt.
Probleme mit Klima und Gewalt
Für Sheinbaum könnte es in ihrer Amtszeit, die am 1. Oktober beginnt, zu Gewissenskonflikten kommen. AMLO hatte etwa versprochen, die Produktion des staatlichen Ölkonzerns Pemex wieder zu steigern - doch wegen alternder Ölfelder, die immer weniger liefern, sank die Förderung zuletzt auf den niedrigsten Stand seit 1979.
Um die Klimaerwärmung kümmert sich Mexiko bislang nicht viel. Die wissenschaftliche Website "Climate Action Tracker" stellt dem Land ein desaströses Zwischenzeugnis aus. Gemessen an seinen Möglichkeiten bewertet sie die Bemühungen als "höchst mangelhaft", gemessen an seiner globalen Verantwortung sogar als "kritisch mangelhaft", die schlechteste Benotung. Dabei trifft der Klimawandel das Land hart. Der Großteil Mexikos leidet unter einer anhaltenden Dürre, und in der Hauptstadt könnten laut Experten jederzeit die Wasserhähne trocken bleiben. Die Trinkwasserreservoire sind nahezu ausgeschöpft.
Mexiko ist eines der gefährlichsten Länder der Region. Mindestens 34 Politiker wurden im aktuellen Wahlkampf ermordet. Sheinbaum hatte es als Bürgermeisterin von Mexiko-Stadt zwar geschafft, die Mordrate mehr als zu halbieren. Doch angesichts der Macht der Drogenkartelle könnte es äußerst schwierig werden, dies in ganz Mexiko zu wiederholen.
Quelle: ntv.de, mit AFP