Hoffnung im verregneten London Kann Keir Starmer die Dinge zum Guten ändern?


Keir Starmer und seine Frau Victoria bei ihrem Einzug in die Downing Street: Die Zeit der erst neunten Labour-Regierung seit 1900 ist angebrochen.
(Foto: AP)
Wie sollte es anders sein? Als in London nach 14 Jahren die Ära der ständig wechselnden Tory-Regierungen endet, gießt es in Strömen. Der Hoffnung vieler Briten tut das keinen Abbruch: Wird Labour-Premier Keir Starmer erfüllen können, was er verspricht?
Es ist ein guter Tag im Vereinigten Königreich - auch wenn das Wetter das noch nicht mitbekommen hat, es gießt seit den frühen Morgenstunden immer wieder in Strömen. Während der Wahltag strahlenden Sonnenschein lieferte, fühlt sich der Tag, an dem das Land in eine neue Ära startet, eher an wie ein grauer Novembermorgen. Doch wir wären nicht in Großbritannien, wenn das Wetter einem die Freude verderben könnte. Und die Freude ist enorm - zumindest bei der Labour-Partei.
"Jetzt können wir nach vorne schauen, in den Morgen gehen. Das Sonnenlicht der Hoffnung, zunächst blass, aber im Laufe des Tages immer stärker werdend, scheint wieder auf ein Land, das nach 14 Jahren die Chance hat, seine Zukunft zurückzubekommen." Die Worte des frisch gewählten Premierministers Sir Keir Starmer mögen etwas pathetisch wirken - besonders vor dem Hintergrund, dass Labour zwar einen historischen Sieg hingelegt hat, es aber generell wenige Stimmen zu verteilen gab. Die Wahlbeteiligung bei diesen Parlamentswahlen ist beträchtlich gering: nur knapp 60 Prozent der Briten gingen an die Wahlurne, die niedrigste Zahl seit fast einem Vierteljahrhundert.
Die Brexit-Gesichter wurden abgewählt
Fragt man die Briten selbst, dann klingt deren Hoffnung doch etwas anders als das von Sir Keir: "Schlimmer kann es ja nicht werden." Und genau darum ging es bei dieser Wahl. Wie heißt es so schön? Großbritannien ist ein konservatives Land, das ab und zu auch mal Labour wählt. Seit der Gründung der Labour Partei im Jahr 1900 gab es nur acht Labour-Regierungen, dafür aber 20 konservative. Das bedeutet nicht, dass sich das nicht vielleicht irgendwann mal ändern kann, aber diese Wahl zeigt sehr deutlich, dass das Land den Tories einen Denkzettel verpassen wollte.
Und die bekommen es deutlich zu spüren. Penny Mordaunt, Vorsitzende des Parlaments: abgewählt. Jacob Rees-Mogg, einer der Brexit-Gesichter überhaupt: abgewählt. Liz Truss, Kurzzeit-Premierministerin: abgewählt. Es scheint, als würde das Wetter also die Gemüter der Tories widerspiegeln. Doch die versuchen, zumindest nach außen hin, das Positive zu sehen: Dass Labour sich innerhalb von fünf Jahren neu aufgestellt und von der großen Niederlage gegen Boris Johnson 2019 erholt hat, bedeutet, dass es auch für die Tories klappen kann, sagt ein Mitglied. Und damit kommen wir zu dem Grund, warum es ein guter Tag für das Vereinigte Königreich ist.
Noch vor fünf Jahren hätte niemand gedacht, dass Labour heute mit so einer großen Mehrheit gewinnen würde. Die Partei, damals unter Jeremy Corbyn, war zerspalten, zerstritten und wirkte wütend auf sich selbst. Es gab eine Reihe an Antisemitismusvorwürfen, besonders gegen Corbyn, und selbst die alteingesessenen Labour-Wähler hier im Land fanden: Diese Partei ist unwählbar. Keir Starmer hat das verändert. Bei seinem ersten Parteitag als Labour-Chef wurde er noch von Corbyn-Unterstützern ausgebuht. Heute wurde er vor der Downing Street von seinen Parteikollegen umarmt, geküsst und bejubelt.
Farage setzt zum großen Wurf an
Als absoluter Sieger gehen aber trotzdem die kleineren Parteien aus dieser Wahl. Der Rechtspopulist Nigel Farage hat es mit seiner Partei Reform UK nach sieben gescheiterten Versuchen ins Parlament geschafft, und die Liberaldemokraten haben mit über 70 Sitzen die größte Anzahl an Abgeordneten im Parlament seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Bezeichnend ist aber, dass insgesamt mehr Menschen für Reform UK gewählt haben, als für die Liberalen und trotzdem nur auf vier Sitze kommen. Geschuldet ist das dem Mehrheitswahlrecht, das nur denjenigen belohnt, der in seinem Bezirk die meisten Stimmen bekommt. "Undemokratisch", sagen viele, aber "gut so", denn so würden Kandidaten wie Nigel Farage nicht zu stark.
Und trotzdem besteht die Sorge, dass er bei der nächsten Wahl vielleicht richtig abräumen kann - das ist zumindest sein Plan. Denn hier kommt ein Fakt, den die Konservativen bestimmt nicht hören wollen: Was Labour in den vergangenen fünf Jahren gelungen ist, wird ihnen nicht so leicht fallen. Zu zerstreut ist die Partei, zu hilflos, mit zu wenig Optionen auf einen Parteichef, der sie wieder zusammenführen kann. Das Land hat den Glauben an die Politiker verloren, die Konservativen auch. Zumindest an sich selbst.
Und auch deswegen sagt Keir Starmer in seiner Antrittsrede, er wisse, dass Taten mehr zählen als Worte und es vielen im Land bestimmt schwerfalle, ihm zu glauben, wenn er sagt, er will sie mit Respekt behandeln. Doch er wolle beweisen, dass Politik Gutes tun kann. Auch Starmer weiß, dass das nicht von heute auf morgen passieren kann, und genau das ist das Problem. Denn für ihn startet jetzt ein Wettlauf gegen die Zeit.
Die vielen Baustellen, die dieses Land hat - hohe Verschuldung, drei Millionen Kinder unterhalb der Armutsgrenze, ein Gesundheitssystem, das nicht nur bröckelt, sondern in Teilen schon zusammengestürzt ist - können kaum innerhalb einer Amtszeit gelöst werden. Besonders, weil kein Geld da ist. Großbritanniens Schulden betragen mittlerweile fast 100 Prozent der Wirtschaftsleistung, und Starmer sagt, er wolle keine Steuern erhöhen. Doch rein durch das Schließen von Steuerschlupflöchern und der Besteuerung von Privatschulen lässt sich die Insel nicht retten. Und trotzdem will er es versuchen und zumindest den Glauben der Menschen an die Politik wieder aufbauen. Und weil er so normal rüberkommt, wenn er das sagt, könnten man es ihm Ende doch fast abnehmen.
Quelle: ntv.de