Politik

Fluss führt immer weniger Wasser Kann die Ukraine den Dnipro passierbar machen?

Satellitenbild vom Kachowka-Stausee, aufgenommen am 20. Juni.

Satellitenbild vom Kachowka-Stausee, aufgenommen am 20. Juni.

(Foto: © Sentinel Hub, ESA)

Das Leid der Menschen im Süden der Ukraine ist auch zwei Wochen nach der Staudamm-Sprengung immens. Womöglich kann der nun immer schmaler werdende Fluss zwischen Saporischschja und Nowa Kachowka langfristig aber der Ukraine helfen.

In der Nacht zum 6. Juni wird eine breite Öffnung in die Mauer des Staudamms von Nowa Kachowka im Süden der Ukraine gerissen. Wassermassen schießen durch zwei Löcher in der Mauer. Die Flutwelle reißt vieles mit, was links und rechts des Dnipro-Ufers liegt. Für die Sprengung des Staudamms ist höchstwahrscheinlich Russland verantwortlich, wie unter anderem die "New York Times" unter Berufung auf Ingenieure und Sprengstoffexperten berichtet.

Mindestens 16 Menschen sind am nördlichen Ufer gestorben, meldet die Ukraine. Die russischen Besatzer am Südufer des Dnipro sprechen von mindestens 29 Toten. Bis sich der Süden der Ukraine von den Flutschäden durch die Staudamm-Sprengung in Nowa Kachowka erholt, wird es noch Jahre oder Jahrzehnte dauern. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj spricht von der "größten vom Menschen verursachten Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten".

Die Flut hat die Landschaft in der Region Cherson womöglich für immer verändert, Inseln und Feuchtgebiete ausgelöscht. Ganze Dörfer und Städte entlang des Dnipro sind möglicherweise nicht mehr bewohnbar. "Wir sehen das ja schon bei uns, wie lange die Aufräumarbeiten und der Wiederaufbau nach dem Hochwasser an der Ahr dauern. In der Ukraine haben wir aber ein Kriegsgebiet, wo es natürlich unglaublich schwer ist, den Leuten zu helfen und den Wiederaufbau vernünftig hinzubekommen", sagt Holger Schüttrumpf, Direktor des Instituts für Wasserbau und Wasserwirtschaft an der RWTH Aachen, im ntv-Podcast "Wieder was gelernt".

84 Mal größer als der größte deutsche Stausee

Mit seinen 18 Milliarden Kubikmetern Fassungsvermögen gehört der Kachowka-Stausee zu den größten Europas. Zum Vergleich: in den größten deutschen Stausee, die Bleilochtalsperre in Thüringen, passen 215 Millionen Kubikmeter Wasser, also 84 Mal weniger als in Nowa Kachowka.

Das zeigt, welche unfassbaren Wassermassen durch die Sprengung des Staudamms freigesetzt wurden. Und was für eine Katastrophe das für eine Region ist, in der gleichzeitig auch noch Krieg herrscht.

Während die Bevölkerung in der Region Cherson mit den Fluten kämpft, herrscht weiter nördlich Wasserknappheit. Je mehr Wasser, aus dem südlichsten der sechs Dnipro-Stauseen abfließt, desto weniger Wasser führt das Flussbett weiter nördlich flussaufwärts. Der Pegel des Kachowka-Stausees ist an den Tagen nach der Sprengung rapide gesunken, täglich um etwa einen Meter. Schon innerhalb der ersten vier Tage ging ein Drittel des im Frühjahr angesammelten Hochwassers verloren. Mittlerweile ist der Pegelstand am Kachowka-Stausee unter das messbare Niveau gefallen.

"Böden üblicherweise sehr schlammig"

Der zuständige ukrainische Wasserkraftversorger teilte mit, dass am Oberlauf des Dnipro nun stärker Wasser angestaut werde, um die Region im Sommer mit Strom versorgen zu können. In den 1950er Jahren wurde der Dnipro zwischen Saporischschja und Cherson eingestaut, um Strom aus Wasserkraft zu produzieren und die Felder im Süden der Ukraine zu bewässern.

Insgesamt hat der Dnipro zwischen Kiew und dem Schwarzen Meer sechs Staudämme. Nowa Kachowka ist schon kurz nach Kriegsbeginn im Februar 2022 unter russische Kontrolle geraten, die fünf anderen werden nach wie vor von der Ukraine kontrolliert. "In der Tat ist der Kachowkaer Stausee das Ende einer ganzen Kette von Staustufen. Das heißt, auch in den Staustufen oberhalb kann Wasser zurückgehalten werden", erklärt Wasserexperte Schüttrumpf.

Könnte die Ukraine jetzt versuchen, das gesamte Wasser des Flusses an den oberen Staudämmen aufzufangen? In Saporischschja befindet sich der letzte Damm vor dem zerstörten in Nowa Kachowka. Wenn dort kein Wasser mehr herausgelassen wird, trocknet das Flussbett zwischen Saporischschja und Cherson nach und nach aus. Der Dnipro wäre dann zumindest in der Theorie leichter passierbar, die ukrainischen Truppen könnten eine weitere Front eröffnen. "Üblicherweise findet man in diesen Stauseen sehr lockeren, teilweise sehr schlammigen Boden vor. Ob man da jetzt einfach durchkommt, kann ich nicht beurteilen, aber es ist sicherlich eher fraglich", so Schüttrumpf im Podcast.

Dnipro? Teils nur noch 300 Meter breit

Stand jetzt ist der Dnipro unmittelbar nördlich der zerstörten Kachowka-Staumauer an einzelnen Stellen nur noch knapp über 300 Meter breit, wie Satellitenaufnahmen zeigen. Am 5. Juni, einen Tag vor der Dammsprengung, waren es an selber Stelle noch etwas über vier Kilometer von einem Ufer zum anderen.

Kriegsbeobachter halten sich derzeit noch bedeckt, was die Passierbarkeit des Dnipro anbetrifft. Thomas C. Theiner hält den Dnipro-Boden in der Kachowka-Region bereits für "trocken genug für Fahrzeuge", wie der italienische Militärexperte bei Twitter schreibt. Beobachter vor Ort konkretisieren, dass lediglich der Bereich um das Ufer bereits trocken genug sei. "Sobald man ein paar Meter weiter geht, beginnt der Boden zu schwanken wie eine schlechte Wassermatratze. Meine Füße sinken in den Sand und die Erde ein", beschreibt ein Augenzeuge bei Twitter.

Dass es für die ukrainischen Truppen kein Selbstläufer werden dürfte, sich durch das Flussbett zu bewegen, darauf deuten auch Aufnahmen aus dem russisch besetzten Enerhodar hin. Das Telegram-Video zeigt, wie Spezialminen zur Abwehr amphibischer Landungen am Ufer des Dnipro liegen.

Profitiert Ukraine langfristig?

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Christian Mölling von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) ist sich grundsätzlich nicht so sicher, ob die Überschwemmungen einen großen Einfluss auf das Kriegsgeschehen haben werden. Zunächst sei das betroffene Gebiet "militärisch aus dem Spiel genommen", sagt Mölling im "Stern"-Podcast "Ukraine - die Lage". Rettungskräfte und Zivilbevölkerung seien in direkter Gefahr durch russischen Beschuss und darüber hinaus noch in der flutbedingten zusätzlichen Notlage. "Das ist zunächst ein Nachteil für die Ukrainer."

Die Russen dürften zumindest kurzfristig von den Folgen der Staudamm-Sprengung profitieren, so der Sicherheitsexperte im "Ukraine - Die Lage"-Podcast. Militärische Operationen im Süden der Ukraine am Dnipro hält Mölling in nächster Zeit für so gut wie ausgeschlossen. Die Seuchengefahr, umhertreibende Minen, Beschuss der weiterhin unter ukrainischer Kontrolle stehenden Gebiete. All das diene zumindest kurzfristig den militärischen Interessen Russlands. Die Ukraine versucht, von der neuen Situation im Süden der Ukraine zumindest langfristig profitieren zu können. Sofern das Flussbett tatsächlich für militärisches Gerät passierbar wird.

"Wieder was gelernt"-Podcast

Dieser Text ist eigentlich ein Podcast: Welche Region schickt nur Verlierer in den Bundestag? Warum stirbt Ostdeutschland aus? Wieso geht dem Iran das Wasser aus? Welche Ansprüche haben Donald Trump und die USA auf Grönland?

"Wieder was gelernt" ist ein Podcast für Neugierige. Hören Sie rein und werden Sie dreimal die Woche ein wenig schlauer.

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Quelle: ntv.de

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