Politik

Sozialleistungen für EU-Ausländer "Kein Verrat an der Sozialdemokratie"

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(Foto: picture alliance / dpa)

Frühestens nach fünf Jahren sollen EU-Bürger in Deutschland Hartz IV oder Sozialhilfe bekommen. Der Gesetzesentwurf dürfte auf viele Migranten abschreckend wirken. Die deutsche Presse empfindet den Verstoß von Andrea Nahles nicht per se als undemokratisch. Im Gegenteil: Es zeuge von einem besonderen Realitätsbewusstsein. Denn auch die potenteste Volkswirtschaft sei irgendwann mit einer massenhaften Zuwanderung überfordert.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bescheinigt Andrea Nahles und ihrem Plan, Sozialleistungen für EU-Ausländer stark beschränken zu wollen die Fähigkeit, ganz bestimmten Ressentiments innerhalb der Bevölkerung entgegen wirken zu können: "Es betrifft zwar nur eine überschaubare Gruppe von EU-Bürgern, denen Arbeitsministerin Andrea Nahles den Geschmack auf deutsche Sozialleistungen verderben will. Aber ihr Gesetzentwurf, der Sozialleistungen daran bindet, längere Zeit gearbeitet zu haben, nimmt einer verbreiteten und durchaus berechtigten Stimmung den Wind aus den Segeln, dass Einwanderung allzu oft nicht von Leistungsbereitschaft, sondern vom Anreiz staatlicher Versorgung getrieben sei." Die Kommentatoren nehmen Bezug zu ähnliche Forderungen des britischen Premierministers: "Nicht umsonst gehört eine Regelung, wie sie Nahles jetzt vorgelegt hat, zu den wichtigsten Forderungen David Camerons, um den 'Brexit' abzuwenden. Nahles macht ihm jetzt allerdings auch vor, dass nur vor der eigenen, nationalen Tür zu kehren braucht, wer eine europarechtlich konforme Abhilfe schaffen will."

Die Ludwigsburger Kreiszeitung sieht in den Maßnahmen der Arbeitsministerin eine Notwendigkeit: "Wenn eine SPD-Bundesministerin Sozialmissbrauch unterbinden oder arbeitsmarktrechtliche Klarstellungen vornehmen will, ist das nicht per se unsozialdemokratisch. Der Plan von Andrea Nahles, den Bezug von Sozialleistungen für EU-Bürger einzuschränken, ist notwendig und konsequent. Auch wenn die Linke ihr jetzt vorwirft, Parteiprinzipien zu verraten." Die Zeitung stellt weiterhin fest: "Die Frage, wer welche Sozialleistungen bekommt, polarisiert immer. Jede Debatte darüber wird schnell zur Neiddebatte. Aber lässt man Klischees und Ressentiments einmal beiseite, dann gilt der einfache Grundsatz: Der Mehrheit der Bürger hierzulande ist es nicht zu vermitteln, wenn es Sozialleistungen ohne vernünftigen Grund gibt. Auch nicht für EU-Bürger."

Das Straubinger Tagblatt erkennt in den Einschnitten der Sozialhilfe für EU-Bürger eine Entlastung der Städten und Gemeinden: "Nach einem Urteil des Bundessozialgerichts, das in solchen Fällen anhand der geltenden Rechtslage bereits nach sechs Monaten einen Anspruch auf Sozialhilfe erkennt, musste die Sozialministerin handeln, um Städte und Gemeinden nicht zu überfordern. Sie tut es, wie gewohnt, schnell und kompromisslos." Das Blatt scheut sich nicht, den Vergleich mit der CSU zu wagen: "Den Slogan 'Wer betrügt, der fliegt' der CSU macht die Sozialdemokratin Nahles sich dabei zwar nicht zueigen, im Prinzip aber zielt ihr Gesetzentwurf in eine ähnliche Richtung, weil eine massenhafte Zuwanderung in die Sozialsysteme irgendwann auch die potenteste Volkswirtschaft überfordert."

Die Abendzeitung nimmt Andrea Nahles in Schutz und sieht keine Notwendigkeit, an sozialdemokratischen Grundpfeilern zu zweifeln: "Soziale Kälte! Politik auf dem Rücken der Ärmsten! Die Reflexe der Opposition funktionieren. Aber sind sie auch richtig? Was Andrea Nahles vorschlägt, ist kein Verrat an den Prinzipien der Sozialdemokratie, sondern zeugt von Realitätsbewusstsein. Solange es keine europaweite Harmonisierung der Sozialsysteme gibt (übrigens eine Kernforderung von Oskar Lafontaine im Bundestagswahlkampf 1998), sind Gesetze notwendig, die die Anrechte von EU-Ausländern auf soziale Hilfen begrenzen. Das Vorhaben, dass Menschen erst 'Stütze' erhalten sollen, wenn sie eine Weile selbst für ihren Lebensunterhalt gesorgt haben, ist nicht neoliberal, sondern im besten Sinne sozialdemokratisch."

Auch für den Trierischer Volksfreund ist ihre Entscheidung mit der Sozialdemokratie vereinbar: "Fakt ist auch, dass die deutschen Sozialleistungen Hoffnungen wecken und somit Menschen anziehen, die gar nicht ernsthaft arbeiten wollen. Weil Hartz IV oder die Sozialhilfe oft höher liegt als das monatliche Einkommen daheim. Außerdem kann es nicht sein, dass ein Land in Europa politische Fehler oder Missstände der Nachbarländer kompensiert, solange es keine einheitlichen Sozialsysteme innerhalb der EU gibt. Dass Nahles nun also gegensteuern will, ist nicht unmenschlich, sondern verantwortungsvoll. Und damit auch sozialdemokratisch."

Die Nürnberger Nachrichten schlagen hingegen einen kritischeren Ton an: "Nahles hätte ihre Gesetzesverschärfung (die zur kurzfristigen Entlastung der Kommunen richtig ist) mit einem Appell für eine Vertiefung Europas verbinden müssen - gerade auch im Sozialrecht. Sie hätte den Bürgern sagen müssen, dass Deutschland mitnichten 'das Sozialamt der Welt' ist - ein dummer Slogan, den die AfD sicher im Wahlkampf 2017 wieder aus dem Hut zaubern wird -, sondern extrem vom freizügigen Europa profitiert hat." Die Kommentatoren werfen ihr ein Versäumnis vor: "Und Nahles hätte klarmachen müssen, dass sich arme Menschen nicht davon abhalten lassen, ihrer Armut zu entfliehen - weder durch geschlossene Grenzen, wie wir es gerade wieder rund ums Mittelmeer erleben, noch durch deutsche Gesetze."

Quelle: ntv.de

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