
Ein ukrainischer Soldat präsentiert das Barett eines russischen Fallschirmjägers auf dem Antonow-Flughafen bei Hostomel.
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Im Februar 2022 bricht in der Ukraine die Hölle los. Aus mehreren Richtungen versuchen Putins Truppen, Kiew zu erobern. Doch Moskau unterschätzt den Widerstandswillen der Ukrainer. Der Historiker Christian Hartmann bezeichnet die Schlacht um die Millionenstadt als Schlüsselmoment des Krieges.
Am frühen Morgen des 24. Februar 2022 verkündete Wladimir Putin im russischen Staatsfernsehen den Überfall auf die Ukraine. Das Hauptziel der Invasoren: die Hauptstadt Kiew. Moskaus Militärplaner rechneten mit einem Blitzsieg innerhalb weniger Tage. Doch nach rund einem Monat blutiger Kämpfe zogen sich die Truppen des Kreml geschlagen aus der Hauptstadtregion zurück.
Der Historiker Christian Hartmann sieht im ukrainischen Sieg vor Kiew den Schlüsselmoment des Krieges. "Die Russen haben mit einer kurzen Besetzung gerechnet und nicht mit einem wirklichen Krieg. Das war eine fundamentale Fehleinschätzung", so das Urteil des Wissenschaftlichen Mitarbeiters am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr im Gespräch mit ntv.de. "Die russischen Soldaten waren auf das, was sie erwartete, auch nicht ansatzweise vorbereitet."
Russische Fallschirmjäger müssen sich zurückziehen
Kurz nach Putins TV-Ansprache stießen russische Bodentruppen von Belarus aus auf zwei Routen Richtung Kiew vor. Während Einheiten westlich des Dnipro das dicht bewaldete Grenzgebiet bei der Atomruine Tschernobyl überschritten, bewegte sich ein anderer Großverband östlich des Flusses auf die Großstadt Tschernihiw zu. Gleichzeitig landeten Hubschrauber mit russischen Fallschirmjägern auf dem Antonow-Flughafen bei Hostomel, etwa 20 Kilometer nordwestlich von Kiew.
"Die Eroberung Kiews war gedacht als Enthauptungsschlag", sagt Hartmann. "Die Idee dahinter lautete: Man fliegt mitten ins Zentrum des Gegners und schaltet die Führungszentrale aus. Die sowjetische Besetzung von Afghanistan im Dezember 1979 verlief nach demselben Muster. Damals gelang es, Präsident Hafizullah Amin zu töten, Kabul einzunehmen und im Anschluss ganz Afghanistan zu besetzen."
Doch der russische Plan ging von Anfang an schief. Etwa 300 Ukrainer, überwiegend Rekruten ohne Kampferfahrung, waren am Flughafen stationiert und konnten den Ansturm der Luftlandetruppen für einige Stunden aufhalten, ehe ihnen die Munition ausging. Dann nahmen ukrainische Geschütze das Gelände unter Feuer. Zudem starteten mehrere ukrainische Einheiten einen Gegenangriff und drängten die Fallschirmjäger in die umliegenden Wälder.
"Die russische Offensive basierte auf der kurzfristigen Eroberung des Flughafens. Doch die Ukrainer ließen sich nicht überrumpeln - weder militärisch noch psychologisch. Damit entschied sich bereits bei Hostomel Kiews Schicksal und auch das der Ukraine", so Hartmann. "Es waren nicht nur reguläre ukrainische Truppen an den Kämpfen beteiligt, sondern auch viele Nationalgardisten, ältere, kurzfristig ausgebildete Männer, die dann in dieser Ausnahmesituation über sich selbst hinauswuchsen. Wie ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj ließen sie keinen Zweifel daran, dass sie ihr Land verteidigen wollten."
Selenskyj lehnt Flucht aus Kiew ab
Am nächsten Tag erreichten russische Panzer Hostomel, woraufhin die Ukrainer den Flughafen aufgaben und sich auf eine neue Verteidigungslinie entlang des Flusses Irpin zurückzogen. Die Landebahn wurde durch die Kämpfe allerdings beschädigt und war für die russischen Transportflugzeuge nicht nutzbar. "Auf dem Antonow-Flughafen sollten eigentlich Verstärkungen und der Nachschub eintreffen", meint Hartmann. "Den beiden großen russischen Angriffskolonnen, die sich gleichzeitig aus Richtung Nordwest und Nordost der ukrainischen Hauptstadt näherten, fehlte damit die logistische Basis. Damit war Moskaus Kriegsplan schon sehr früh gescheitert."
In Kiew versuchten unterdessen viele Menschen aus der Stadt zu fliehen. Auf den Hauptrouten Richtung Westen bildeten sich lange Staus. Die Behörden riefen die Bevölkerung auf, Molotowcocktails herzustellen, und verteilten Waffen. Barrikaden wurden in den Straßen errichtet. Regierungsberater informierten Selenskyj, dass sich russische Agenten und Sabotagetrupps in der Stadt befanden, um ihn zu töten und Chaos zu stiften. Trotz der Gefahr lehnte der Präsident eine Flucht ab. Bei Anbruch der Dunkelheit kam es im Regierungsviertel zu Schießereien. Später am Abend veröffentlichte Selenskyj ein Handyvideo, dass ihn vor dem Präsidentschaftsgebäude zeigt. Als es wieder hell wurde, meldeten die Behörden 60 getötete Saboteure. Der Sturz der Regierung war misslungen.
Russischer Vormarsch endet bei Irpin

Neben den regulären Soldaten griffen auch Tausende Zivilisten zu den Waffen, um Kiew zu verteidigen.
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Vor Kriegsbeginn hatte die Kiewer Regierung ihre besten Brigaden im Osten des Landes stationiert. Für die Verteidigung der Hauptstadt stand deshalb nur ein kleines Aufgebot an Einheiten bereit. Der britischen Denkfabrik Rusi zufolge verfügten Russlands Verbände im Raum Kiew über eine zahlenmäßige Überlegenheit von zwölf zu eins.
Trotzdem gelang es den Ukrainern am 27. Februar, den russischen Vormarsch nördlich von Kiew zwischen den Vororten Butscha und Irpin zu stoppen. Nachdem Moskaus Truppen weiter östlich bei Moschun den Fluss Irpin überquert und einen Brückenkopf errichtet hatten, sprengten die Ukrainer bei Demydiw einen Staudamm. Die großflächigen Überschwemmungen schafften ein natürliches Bollwerk und engten den Spielraum der russischen Verbände ein.

In den Händen der Ukrainer erwiesen sich die westlichen Panzerabwehrwaffen als tödliche Bedrohung für die russischen Verbände.
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Doch nicht nur der Flusslauf stellte den Kreml vor Probleme. Die Nachschublinien waren überdehnt und anfällig für ukrainische Hinterhalte mobiler Trupps mit westlichen Panzerabwehrwaffen. In Ermangelung einer Eisenbahn musste der Nachschub aus Belarus in Fahrzeugen herangeschafft werden. "Auch die klimatischen Bedingungen kamen den Verteidigern zugute", erzählt Hartmann. "Das Wetter war für ukrainische Verhältnisse relativ warm, so dass die Schlammperiode früher einsetzte. Auch deshalb konzentrierten sich die russischen Kolonnen auf einige wenige Straßen." Verstopfte Wege waren die Folge. Zudem waren viele Brücken in der von Sümpfen durchzogenen Region von den Ukrainern gesprengt worden. Wegen Treibstoffmangel blieben zahlreiche russische Panzer liegen.

Christian Hartmann ist Leiter des Forschungsbereichs Einsatz am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam.
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Auch östlich des Dnipro litten die russischen Soldaten unter Versorgungsproblemen. Moskaus Einheiten scheiterten daran, das Etappenziel Tschernihiw zu erobern, wodurch die durch die Stadt verlaufende Eisenbahnlinie nicht genutzt werden konnte. Auf russischer Seite setzte daraufhin ein Umdenken ein. Nun versuchte man, Kiew in einem weiten Bogen einzukreisen und die Verkehrsverbindungen Richtung Westen zu kappen. Doch die Ukrainer hielten bei Makariw westlich von Kiew ihre Position und verhinderten so eine Flankierung der Hauptstadt. Auch ein russischer Angriff aus der östlich gelegenen Region Sumy konnte keine Kraft entfalten.
Ukraine geht zur Gegenoffensive über
"Was den russischen Kommandeuren nicht gelang, ist das Gefecht der verbundenen Waffen", resümiert Hartmann. Teilweise seien die gepanzerten Verbände ohne Sicherung an den Flanken oder durch Hubschrauber ins Feindgebiet gefahren, was sie zu leichten Zielen gemacht habe. "Hinzu kam, dass die russischen Bataillonskampfgruppen nicht zusammen, sondern isoliert nebeneinander operierten."
Zudem sei die russische Luftwaffe über dem Schlachtfeld kaum zu sehen gewesen. "Das heißt: Auch die Kooperation zwischen den Teilstreitkräften funktionierte nicht." Den größten Schwachpunkt sieht Hartmann aber in der unflexiblen Befehlstaktik. "Die russischen Soldaten und Offiziere agieren nicht selbstständig, wie es in westlichen Streitkräften viel stärker der Fall ist."
Mitte März gingen die ukrainischen Streitkräfte im Raum Kiew zum Gegenangriff über. Am 29. März gab das russische Verteidigungsministerium bekannt, dass es seine Truppen aus dem Raum Kiew zurückzieht. Vier Tage später erklärten ukrainische Behörden die gesamte Hauptstadtregion für befreit. Nach dem Abzug der Russen wurden in den Orten Butscha, Borodjanka und Irpin Massengräber mit Hunderten Zivilisten entdeckt. Viele Leichen wiesen Folterspuren auf. "Krieg ist immer eine Entfesselung von Gewalt. Aber in diesem Fall ist ein System erkennbar", urteilt Hartmann; er spricht von "Kriegsverbrechen" und einem "Vernichtungskrieg".
"Diese Verbrechen wurden akzeptiert, möglicherweise auch bewusst gefördert." Der russischen Invasion liege die Idee zugrunde, dass der ukrainische Staat kein Existenzrecht besitze. Dieser Ansatz sei auch in der russischen Kriegsführung und der Besatzungspolitik zu spüren. "Zu ihr gehören systematische Plünderungen und auch eine hemmungslose Verwüstung der ukrainischen Gebiete."
Nach dem Rückzug aus der Hauptstadt intensivierte der Kreml seine Angriffe im Donbass, die im Sommer unter großen russischen Verlusten in der Eroberung der Zwillingsstädte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk mündeten. Doch die Gefahr für Kiew war gebannt. Bis heute blieb die Millionenmetropole von weiteren russischen Bodenoffensiven verschont.
Quelle: ntv.de