Legal, illegal, schnurzegal?Trump und Hegseth bringen US-Militär auf Linie - auch wegen Einsatz vor Venezuela
Von Roland Peters, New York
Zu dem tödlichen US-Einsatz gegen Boote vor Venezuela türmen sich die Fragen. Beweise fehlen, die juristische Begründung ist einsturzgefährdet. Präsident Trump steht hinter "Kriegsminister" Hegseth. Der säubert das Militär weiter, feuert den Oberbefehlshaber des Südkommandos wohl wegen Widerspruchs.
Ab Seite 443 im Kriegshandbuch des US-Verteidigungsministeriums ist darüber zu lesen, wie mit Verwundeten, Kranken und Schiffbrüchigen umzugehen ist. Ein bewusster Befehl zu ihrer Tötung ist nicht vorgesehen - im Gegenteil, sie haben demnach einen Anspruch auf Schutz. Zivilisten fallen unter die Genfer Konvention, auch ihnen darf kein Schaden zugefügt werden. Anders gesagt: Es wäre ein Kriegsverbrechen, sie zu töten. Und wenn die USA sich gar nicht im Krieg befinden, wäre es Mord.
Eben das ist der explosive Vorwurf in einem Vorgang, der seit Wochen die US-Medien, die Regierung und den Kongress beschäftigt: Am 2. September befahl Verteidigungsminister Pete Hegseth den Angriff auf ein Schnellboot in internationalen Gewässern vor der venezolanischen Küste; es sollte versenkt, die Besatzung getötet und die Drogen zerstört werden. Doch als sich der Rauch nahe Trinidad verzog, wurden zwei Überlebende im Wasser sichtbar. Der befehlende Admiral Frank Bradley ordnete einen zweiten, tödlichen Schlag an.
Inklusive dieses Angriffes haben die US-Streitkräfte laut Angaben der Behörden bislang mindestens 87 Menschen auf 23 Booten vor Venezuela getötet. "Wir dürfen es", behauptet US-Präsident Donald Trump. Entsprechend ist bislang kein einziger Kopf in der Regierung oder im Militär dafür gerollt. Trotz aller Zweifel und Fragen, die sich auftürmen. Wie rechtfertigt die Regierung ihr Vorgehen? Welche Verantwortung hat Hegseth? Ist es die Folge politischer Säuberungen und fehlender Aufsicht im Militär? Und was sagt all das darüber aus, ob und wie Präsident Donald Trump autokratisch regiert?
Zweifelhafte Begründungen
Das Pentagon und das Weiße Haus haben sich eine eigene Logik zurechtgelegt. Die Schnellboote aus Venezuela brächten die Ware von Drogenkartellen in die USA, woran Menschen dort sterben würden. Das erste Boot und seine Besatzung hätten zum Drogenkartell "Tren de Aragua" gehört, laut US-Regierung eine Terrororganisation. Man befinde sich in einem "nicht-internationalen bewaffneten Konflikt" mit "illegalen Kämpfern", die sich im juristischen Niemandsland zwischen Soldaten und Zivilisten befinden. So wie nach 9/11, als US-Regierungen terroristische Kämpfer von Al-Kaida auf unbestimmte Zeit einsperrten.
Eine Gruppe früherer Militärstaatsanwälte, unter anderem solche, die von Trumps Regierung gefeuert wurden, hält die Argumentation für Humbug. Wenn das US-Militär sich tatsächlich in einen "nicht-internationalen bewaffneten Konflikt" verwickelt sei, schrieben sie, seien Befehle wie von Hegseth, die zur Tötung von Überlebenden führten, nach internationalem Recht trotzdem illegal. Falls dieser Konflikt gar nicht so definiert werden könne, greife das Zivilrecht - und dann könnten "Personen, die den Abzug betätigt haben", wegen Mordes strafrechtlich verfolgt werden. Die Vereinten Nationen bewerten die Angriffe der USA als "außergerichtliche Tötungen".
Tess Bridgeman, juristische Beraterin für nationale Sicherheit unter US-Präsident Barack Obama, sieht wie viele andere Experten keinen bewaffneten Konflikt und keine Terroristen auf dem Boot, sondern schlicht Zivilisten. Es sei auch nicht klar, ob die überhaupt in Richtung der USA unterwegs gewesen seien, was für die angegebene Begründung nötig wäre. Demnach hätten Regierung und Militär mit ihren Schlägen Verbrechen begangen, sagte sie dem Magazin "The New Republic".
Säuberung der Militärführung
Der Admiral folgte jedoch der Argumentation der Regierung, als er im Kongress zu den Vorgängen befragt wurde: Illegale Drogen seien als Waffen zu betrachten, ihre Schmuggler deshalb keine Zivilisten, sondern feindliche Kämpfer. Dieser Definition zufolge bestand die gesamte elfköpfige Besatzung aus "Narco-Terroristen". Und die schaltete er gemäß Anordnung aus. Bradley erläuterte, US-Geheimdienste hätten alle Personen als legale Ziele identifiziert. Die Erklärung Hegseths war, die Überlebenden hätten möglicherweise mit einem zweiten Schiff kommuniziert, die Drogen - nach Regierungslogik also Waffen - weiter existiert und die beiden deshalb eine Gefahr dargestellt.
Bradley sagte auch, er hatte einen Militäranwalt neben sich, der ihn anhand des Kriegshandbuchs des Pentagon beraten habe. Laut internationalem Recht sind Personen, die "auf See in Gefahr sind" schiffsbrüchig, wenn sie keine feindseligen Handlungen durchführen. Sie genießen Schutz, da sie keine Zuflucht erreichen können. Was ihm der Jurist sagte, ist unklar; dazu äußerte Bradley sich nicht. Das Weiße Haus teilte mit, Bradley habe entsprechend Hegseths Befehl gehandelt. Der Sprecher von General Dan Caine, Vorsitzender des Generalstabs und damit Oberkommandeur unter Trump, teilte mit, Caine habe Vertrauen in Bradley und Kommandeure "auf allen Ebenen".
Hegseth hat die Kommandostruktur des Militärs politisch auf Linie des Weißen Hauses gebracht, feuerte seit Februar die oberen Militärstaatsanwälte aller Teilstreitkräfte sowie Dutzende hochrangige Offiziere. Eine solche "Säuberung" habe es seit Jahrzehnten nicht gegeben, schreibt die "New York Times". Der Feldzug gegen internen Widerspruch ist weiter im Gange. Zuletzt feuerte Hegseth Admiral Alvin Holsey, Oberkommandeur des für Lateinamerika verantwortlichen Südkommandos (Southern Command) - laut Reuters aus "wachsendem Frust" des Pentagon-Chefs. Holsey habe immer wieder Zweifel geäußert, dass Trumps und Hegseths Militäreinsatz gegen die Schnellboote und die Tötungen der Besatzungen legal seien, heißt es. Hegseth wolle das Südkommando "flexibler" einsetzen, sagten anonyme Militärs der Nachrichtenagentur Reuters.
Holsey war auch Ende September anwesend, als Hegseth die Generäle und Admirale aus aller Welt auf einen Stützpunkt nahe Washington zusammengerufen hatte. Vor Hunderten Offizieren der Militärführung regte sich der Verteidigungsminister, der sich selbst auch Kriegsminister nennt, über "dumme Einsatzregeln" auf: "Wir entfesseln unsere Kämpfer, damit sie die Feinde unseres Landes einschüchtern, demoralisieren, jagen und töten", erklärte er die neue Vorgabe. Kurz darauf sollen die ersten internen Unterhaltungen über eine mögliche Absetzung Holseys stattgefunden haben.
Wo sind die Beweise?
Für Bridgeman liegt die Verantwortung für die Tötungen in der Karibik nicht nur im Pentagon, sondern am Ende im Weißen Haus. Denn wenn das Vorgehen juristisch folgenlos bliebe, würde dies normalisieren, dass ein Präsident außerhalb des Kriegsrechts illegale Befehle geben könne und das Militär diese befolge. "Einen solchen Missbrauch des Militärs hat es in den USA noch nie gegeben", so Bridgeman. Die Tötungen vor Venezuela werfen also eine noch viel größere Frage auf. Wie autoritär regiert Donald Trumps Regierung inzwischen?
Exemplarisch für das Anspruchsdenken des Präsidenten ist seine Reaktion auf ein Video von demokratischen Abgeordneten und Senatoren im November. Da erklärten die Politiker - alle waren zuvor beim Militär tätig - an Soldaten gerichtet, sie hätten das Recht, illegale Befehle zu ignorieren. Trump bezeichnete die Demokraten als Verräter und beschuldigte sie des "umstürzlerischen Verhaltens" (seditious behavior), auf dem der Tod stehe. Er stellt damit den Anspruch, als Oberkommandeur über dem Gesetz zu stehen und wischt die Geschichte beiseite. Spätestens seit den Nürnberger Prozessen gegen die Akteure Nazi-Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg gilt das Prinzip, dass sich niemand aus der Verantwortung stehlen könne, weil er "nur" Befehlen gefolgt sei.
Selbst für ihre eigene Argumentationskette hat die Regierung bislang keine belastbaren Belege präsentiert. Gibt es die? Bei einer Videokonferenz Ende Oktober, an der Dutzende amerikanischer Diplomaten aus den Amerikas teilnahmen, wurde laut "New York Times" die Anweisung gegeben: Falls Überlebende gerettet werden, sollen sie in ihre Heimat- oder ein Drittland geschickt werden. Dahinter stehe das Ziel, dass die Überlebenden nicht vor ein US-Gericht kämen. Die Regierung wäre ja gezwungen, Beweise für den tödlichen Militäreinsatz vorzulegen.