Interview mit Konfliktforscher "Man müsste der Türkei Ultimaten stellen"
03.03.2017, 14:44 Uhr
"Der türkische Präsident Erdogan hat in den vergangenen Jahren vielfältig antidemokratisch agiert, so dass in Berlin die Alarmglocken hätten schrillen müssen", sagt Johannes M. Becker.
(Foto: REUTERS)
Der Konfliktforscher Johannes M. Becker ist der Ansicht, dass die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland nicht genehmigt werden dürften. Er sagt im Interview mit n-tv.de, in Berlin hätten schon vor Jahren die Alarmglocken schrillen müssen.
n-tv.de: Die Verhaftung des Journalisten Deniz Yücel, jetzt der Streit um die Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland: Wie schwerwiegend ist der Konflikt zwischen der türkischen und der deutschen Regierung auf einer Skala von eins bis zehn?
Johannes M. Becker: Solche Skalen sind immer schwierig. Den Israel-Palästina-Konflikt würde ich bei einer Acht einordnen. Manchmal, wenn die Palästinenser Raketen abschießen oder die Israelis in Gaza einmarschieren, liegt er auch bei einer Zehn. Zwischen der Türkei und der Bundesrepublik haben wir es mit einem diplomatischen Konflikt zu tun. Ich würde ihn mit vier oder fünf bewerten. Er ist deshalb so interessant und besonders, weil es sich um einen Konflikt innerhalb einer Bündnisstruktur handelt. Beide Länder sind zusammen in der Nato, in der OSZE und im Europarat, sie haben eigentlich einen Haufen Gemeinsamkeiten.
Wie beurteilen Sie die Wahlkampfauftritte von türkischen Politikern in Deutschland?
Ich bin der Ansicht, dass solche Auftritte nicht genehmigt werden dürfen. Stellen Sie sich vor, deutsche Politiker würden nach Mallorca fliegen und dort Wahlkampf machen, weil dort Tausende deutsche Rentner leben. Das würde die spanische Regierung auch nicht gut finden - ganz unabhängig vom Inhalt der Wahlkampfreden. Das Referendum in der Türkei soll ja legitimieren, einen außerordentlich autoritären Staat aufzubauen. Vor diesem Hintergrund finde ich das Agieren einiger deutscher Kommunen sehr vernünftig, die solche Veranstaltungen gestoppt haben; auch einige Bundestagsparteien haben sich ja eindeutig geäußert.
Sie sind Konfliktforscher. Wenn Sie in diesem Streit Schlichter wären: Was würden Sie machen, damit sich beide Seiten in dieser schwierigen Situation wieder näher kommen?
Helmut Schmidt hat kurz vor seinem Tod einen sehr wichtigen Satz gesagt: Lieber 100 Mal erfolglos verhandeln als einmal schießen. Es steht nicht zur Debatte, dass die Waffen sprechen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik. Aber was Schmidt damit sagen wollte ist: verhandeln, verhandeln, verhandeln! Keine Verhandlungs- und Redestränge erschlaffen lassen, auf allen möglichen Ebenen. Öffentlichkeit herstellen: Was wirft die Regierung der Türkei dem Journalisten vor, was den geschassten Hochschullehrern, was den geschassten Richtern, Staatsanwälten - dieses Problem wird doch von der Regierung in Berlin völlig ausgeklammert! Einen Einwand habe ich darüberhinausgehend: Die Bundesregierung hätte früher eingreifen können und müssen. Der türkische Präsident Erdogan hat in den vergangenen Jahren vielfältig antidemokratisch agiert, so dass in Berlin die Alarmglocken hätten schrillen müssen.
Und zwar?
In dem Moment, wo Erdogan in seinem Land angefangen hat, wahllos Menschen zu verhaften und Schulen zu schließen. Da hätte die Bundesrepublik den Nato-Partner Türkei, der in die EU aufgenommen werden will, zur Räson bringen müssen. Sie hätte klar machen müssen: Wenn du dieses Spiel weiterspielst, werden wir dagegen vorgehen. Das hat die Bundesregierung nicht getan. Sie und das Gros der politischen Klasse unseres Landes ist doch froh über das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei. In unserem Land machen sich die meisten Politiker keine Gedanken über die Ursachen der Flüchtlingskrise und was wir dagegen tun könnten. Wir doktern nur an den Möglichkeiten herum, die Flucht zu verhindern. Die Verhandlungen mit der diktatorischen Regierung Ägyptens sind das nächste Kapitel in diesem schlechten Spiel.
Was hätte die Bundesregierung denn machen sollen?
Sie hätte Ultimaten stellen sollen: Wenn ihr weiter wahllos und ohne vernünftige Gerichtsverfahren Menschen in den Knast steckt, werden wir die Verhandlungen des Beitritts zur Europäischen Union stoppen. Zweitens werden wir die Nato-Gremien einberufen. Denn in der Nato gibt es verschiedene Verpflichtungen zu demokratischem Verhalten und zur Einhaltung der Menschenrechte. Wir werden euch vor die OSZE zitieren und euer Verhalten da schonungslos kritisieren. Wir werden Sanktionen der verschiedensten Art diskutieren und realisieren!
Seit langem gibt es den Vorwurf, die Kanzlerin sei zu nachsichtig mit Erdogan. Stimmen Sie dem uneingeschränkt zu?
Ja. Aber ich glaube, dass es in Deutschland klammheimlich eine große Zufriedenheit darüber gibt, dass die Türkei uns im Augenblick die großen Flüchtlingsmassen abnimmt. Deswegen wird die türkische Regierung seit langem mit Glacéhandschuhen behandelt.
Der türkische Außenminister hat heute gesagt: Wenn Deutschland die Beziehungen zur Türkei aufrechterhalten wolle, müsse es "lernen, sich zu benehmen". Was empfehlen Sie der Kanzlerin, wie Sie darauf reagieren soll?
Auf so etwas reagiert man nicht. Das ist Pöbelei. Ich verweise noch einmal auf Helmut Schmidt: weiterverhandeln! Auch Universitäten und Nichtregierungsorganisationen können da stimulierend wirken. Die Universität Marburg beispielsweise hat verschiedene Initiativen ergriffen. Eine politische Stiftung, für die ich tätig bin, hilft türkischen Wissenschaftlern dabei, ihre Promotionen zu beenden und eine Anstellung in Deutschland zu finden. Die Bundesregierung sollte den Dialog aktiv aufrechterhalten.
Mit Johannes M. Becker sprach Christian Rothenberg
Quelle: ntv.de