Disput zum Umgang mit Putin Trägt der Westen eine Mitschuld an Russlands Krieg?
20.03.2022, 10:05 Uhr
Am 15. Februar, neun Tage vor Beginn der russischen Invasion, flog Bundeskanzler Scholz nach Moskau, um mit Putin zu sprechen.
(Foto: AP)
Der Politologe Johannes Varwick geht davon aus, dass der Westen den russischen Krieg gegen die Ukraine hätte verhindern können. "Ich glaube, dass Kriege nie unausweichlich, sondern die Folge falscher Entscheidungen sind", sagt er im Interview mit ntv.de. Waffenlieferungen hält er für falsch, damit werde "die Ukraine ein Stück weit verheizt" und der Konflikt nur blutiger und länger gemacht - eine These, für die Varwick scharf kritisiert wurde.
Die Gegenposition bezieht in diesem Streitgespräch der Jurist Roger Näbig, der den Blog "Konflikte und Sicherheit" betreibt. Näbig sagt: Nur durch einen Abnutzungskrieg könne Putin gezwungen werden, sich bei den Verhandlungen mit der Ukraine zu bewegen. Dass der Krieg durch Verhandlungen der NATO mit Russland hätte verhindert werden können, glaubt er nicht. "Putin sagt letztlich: Wenn ihr nicht macht, was ich will, dann überziehe ich euch mit Krieg. Ich sehe da keinen Interessenausgleich."
ntv.de: Herr Varwick, ich glaube, wir müssen vorab etwas klären, es gab da gewisse Vorwürfe in den sozialen Medien. Sind Sie ein Putin-Versteher?
Johannes Varwick: Überhaupt nicht. Ich war immer bemüht um einen realistischen, nüchternen Blick auf Russland. Und ich kritisiere Russland seit vielen Jahren, schon vor der Annexion der Krim, die ich natürlich ebenfalls kritisiert habe. Aber ich bin der Meinung, dass es eine kluge Tugend ist, in der internationalen Politik auch mit schwierigen Partnern einen Interessenausgleich zu versuchen.

Johannes Varwick hat einen Lehrstuhl für internationale Beziehungen und europäische Politik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
(Foto: ntv)
Herr Näbig, ist das für Sie eine legitime Position?
Roger Näbig: Auf jeden Fall. Natürlich hat Herr Professor Varwick das Recht, seine Meinung frei zu äußern. Ich bin sehr dafür, ihm zu widersprechen und sich kritisch mit seinen Thesen auseinanderzusetzen. Aber ihn zu beleidigen, als Putin-Versteher oder gar als Russland-Troll zu diffamieren, ist in meinen Augen völlig falsch.
Sie, Herr Varwick, glauben, dass der Westen im Umgang mit Russland Fehler gemacht hat. Wäre der Überfall auf die Ukraine denn durch ein anderes Verhalten der NATO vermeidbar gewesen?
Johannes Varwick: Kontrafaktische Geschichtsschreibung ist immer schwierig, aber man kann versuchen, die Dinge anhand der Fakten bestmöglich zu analysieren. Da bin ich in der Tat der Auffassung, dass wir mit Russland einen Interessenausgleich hätten hinbekommen können - wenn wir bereit gewesen wären, unsere Prinzipien nicht absolut zu setzen. Aus meiner Sicht spricht vieles dafür, dass dieser Krieg vermeidbar gewesen wäre. Dahinter steht keine Blauäugigkeit, sondern eine nüchterne Betrachtung der russischen Kriegsziele. Das oberste Kriegsziel Russlands ist die Verhinderung einer weiteren Ausweitung der NATO. Dass Russland bereit sein würde, fast jedes Mittel für dieses Ziel einzusetzen, war früh absehbar. Ich bin überzeugt, dass wir den Krieg hätten verhindern können, wären wir der russischen Perspektive ein Stück weit entgegengekommen.

Roger Näbig ist Rechtsanwalt in Berlin, Völkerrechtler und sicherheitspolitischer Blogger - sein Blog heißt "Konflikte und Sicherheit".
(Foto: privat)
Roger Näbig: Das sehe ich anders. Als Russland am 17. Dezember die zwei Vertragsentwürfe mit Forderungen an die NATO veröffentlichte, war klar, dass es hier darum geht, einen Vorwand für ein militärisches Eingreifen zu schaffen. Allein dieses Vorgehen, Vertragsentwürfe zu veröffentlichen, die zwei Tage vorher den USA übergeben worden waren, war völlig unüblich für völkerrechtliche Verhandlungen. Auch inhaltlich muss Russland klar gewesen sein, dass seine Forderungen für den Westen nicht akzeptabel sind, etwa die nach einem Rückzug der NATO-Strukturen auf den Stand von 1997 oder der Ausschluss einer NATO-Mitgliedschaft nicht nur der Ukraine, sondern auch von Finnland und Schweden. Für mich zeigte der ganze Vorgang, dass die russische Seite kein wirkliches Interesse daran hatte, mit dem Westen vernünftig zu verhandeln.
Johannes Varwick: Ein Stück weit ist das sicherlich richtig. Aber Russland hat bei vielen Gelegenheiten signalisiert, dass es unzufrieden ist mit der europäischen Sicherheitsordnung. Unser Versäumnis ist es, erst darauf reagiert zu haben, als Russland im vergangenen Jahr den militärischen Druck erhöhte. Es ist zwar richtig, dass die Vertragsentwürfe vom 17. Dezember nicht akzeptabel für uns waren. Aber man hätte darüber verhandeln können. Verhandeln heißt nie, dass man alle Positionen des Gegenübers schluckt, sondern es heißt, seine eigenen Interessen klug durchzusetzen, in Kenntnis der roten Linien der anderen Seite. Ich glaube, Russlands rote Linie wäre ein NATO-Beitritt der Ukraine gewesen. Die anderen Punkte, wie den Rückzug der NATO-Infrastruktur, hätte man nicht akzeptieren dürfen. Aber man hätte darüber verhandeln können.
Vielleicht kann man nicht jeden Krieg verhindern, den ein unberechenbarer Nationalist plant.
Johannes Varwick: Das ist genau die Frage, über die wir hier streiten.
Roger Näbig: Der russische Krieg gegen Georgien 2008 wurde von der NATO noch wie eine Art Betriebsunfall behandelt. Dann kam 2014 die Besetzung und Annexion der Krim sowie der Konflikt in der Ostukraine. Das war der Sündenfall. Damals fing der Westen an, darüber nachzudenken, ob mit Russland überhaupt noch vernünftige Sicherheitspolitik möglich ist. Denn in den vergangenen acht Jahren gab es im Donbass einen Krieg mit 14.000 Toten. Und mit Blick auf die russischen Vertragsentwürfe: Die offizielle russische Position war, dass ihre Forderungen nicht verhandelbar sind. Stattdessen drohte Moskau mit "militärisch-technischen Mitteln", sollten die russischen Forderungen nicht erfüllt werden.
Johannes Varwick: Wenn das so wäre, dann wäre der Krieg in der Tat unausweichlich gewesen. Ich glaube aber, dass Kriege nie unausweichlich, sondern die Folge falscher Entscheidungen sind. Die Eintrittskarte in Verhandlungen wäre gewesen, die Frage der ukrainischen NATO-Mitgliedschaft nicht zu tabuisieren. Als ich die Antwort des NATO-Generalsekretärs am 12. Januar auf die russischen Vertragsentwürfe gesehen habe, war mir klar, dass da keine Kompromisse mehr möglich sind. An dem Tag war mir klar, dass das in militärischer Eskalation enden wird.
Ist denn die russische Auffassung, dass die NATO Russland bedroht, überhaupt richtig?
Johannes Varwick: Faktisch bedroht die NATO Russland nicht. Die NATO ist ein Bündnis von 30 Demokratien, ein Angriffskrieg gegen Russland wäre innerhalb des Bündnisses niemals mehrheitsfähig. Das wissen die Russen natürlich auch. Dennoch ist nachvollziehbar, dass eine Großmacht gegenüber einem Klub, dem sie nicht angehört, eine gewisse Skepsis hat. Wir würden es uns zu einfach machen, wenn wir sagen: Wir sind die Guten, wir bedrohen niemanden. Das setzt jede Logik in der internationalen Politik außer Kraft, in der die militärische Stärke des einen immer zwangsläufig die Bedrohung eines anderen ist.
Aber tatsächlich stellt doch Russland eine Bedrohung für seine Nachbarn dar.
Roger Näbig: Ich sehe jedenfalls nicht, warum Russland sich von der NATO bedroht fühlen müsste. Die NATO hat sich 1997 in der NATO-Russland-Grundakte dazu verpflichtet, russische Sicherheitsbedenken ernst zu nehmen und keine substantiellen Einheiten dauerhaft in den neuen NATO-Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts zu stationieren. Es gab dort daher nur die rotierenden eFP-Einheiten, die Russland definitiv nicht bedroht haben. Und selbst wenn Russland sich von der NATO bedroht gefühlt hat: Das soll ein Grund sein, in die Ukraine einzufallen? Für mich ist das keine stimmige Argumentationskette. Zumal ein NATO-Beitritt der Ukraine überhaupt nicht anstand.
Johannes Varwick: Das stimmt so nicht. Die NATO hat 2008 gesagt, dass die Ukraine Mitglied wird. Der Wortlaut war eindeutig. Seither ist der Zug in Richtung NATO-Mitgliedschaft immer schneller geworden. Die Ukraine hat an jedem NATO-Gipfel als Gast teilgenommen. Die NATO hat ungefähr 10.000 ukrainische Soldaten ausgebildet. Die USA und andere NATO-Staaten haben der Ukraine massive Militärhilfe geleistet. Im November 2021 wurde ein ukrainisch-amerikanischer Sicherheitspakt unterzeichnet, der das Ziel der NATO-Mitgliedschaft quasi zementiert hat. Die NATO-Mitgliedschaft stand zwar nicht an, aber sie stand gewissermaßen auf dem Gleis.
Hätte der Überfall auf die Ukraine verhindert werden können, wenn die Ukraine schnell in die NATO aufgenommen worden wäre?
Roger Näbig: Auch das ist kontrafaktische Geschichtsschreibung. Vielleicht wäre es sogar schneller zum Krieg gekommen. Und dennoch muss ich Herrn Professor Varwick widersprechen: Warum soll die Ukraine nicht das Recht haben, sich frei und nach ihren eigenen Vorstellungen dem Westen anzuschließen? Warum sollte Russland das Recht bekommen, sich in die sicherheitspolitischen Interessen anderer Staaten einzumischen? Hier geht es doch weniger um klassische Sicherheitspolitik, sondern vielmehr um die Frage, ob Russland Angst vor einer Ukraine hat, die als freiheitliche Demokratie vielleicht auch wirtschaftlich floriert und so allein durch ihre Existenz demonstrieren könnte, was in Russland nicht funktioniert.
Johannes Varwick: Das läuft auf die Frage hinaus, ob es zwischen Demokratien und anderen Systemen überhaupt einen Interessenausgleich geben kann. Mir wäre auch lieber, wenn die ganze Welt demokratisch, rechtsstaatlich, menschenrechtlich orientiert und wirtschaftlich erfolgreich wäre. Aber so ist die Welt nicht. In der Welt, in der wir leben, sind Einflusszonen der Großmächte eine Realität. Russland sieht die Ukraine als cordon sanitaire, als Sicherheitsgürtel, und hat klargemacht, dass es bereit ist, dafür in den Krieg zu ziehen.
Putin hat den Angriff auf die Ukraine nicht nur mit der NATO, sondern mit allerlei anderen Punkten begründet. Unter anderem damit, dass Russen und Ukrainer letztlich ein und dasselbe Volk seien. Folgt Putin vielleicht einfach einer neoimperialistischen, völkischen Ideologie?
Roger Näbig: Dieser Artikel von Putin aus dem Juli letzten Jahres über die "historische Einheit" von Russen, Ukrainern und Belorussen, auf den Sie anspielen, war aus meiner Sicht eher die ideologische Unterfütterung seines Machtanspruchs, aber nicht der zentrale Grund für den Krieg. Putin ging davon aus, er könnte die Ukraine mit einem kurzen Feldzug in wenigen Tagen in die Niederlage treiben und dann bei Friedensverhandlungen durchsetzen, dass die Ukraine für alle Zeiten auf eine NATO-Mitgliedschaft verzichtet. Das völkische Element ist nur eines von vielen - daneben gab es ja noch die "Entnazifizierung" der Ukraine, angebliche Biowaffen-Labore und vieles mehr. In meinen Augen geht es im Kern um Machtpolitik. Russland möchte seine Einflusszone, seine Sicherheitszone ausdehnen. Dahinter steht das Denken des Kalten Kriegs, das im 21. Jahrhundert aber nicht mehr akzeptabel ist. Was Herr Professor Varwick als Interessenausgleich sieht, das ist für mich nichts anderes als eine Wiederkehr des unsäglichen Münchener Abkommens von 1938.
Im Münchner Abkommen wurde die Abtretung des tschechoslowakischen Sudetengebiets an Nazideutschland vereinbart, ohne dass die Tschechoslowakei beteiligt worden wäre.
Roger Näbig: Putin sagt letztlich: Wenn ihr nicht macht, was ich will, dann überziehe ich euch mit Krieg. Ich sehe da keinen Interessenausgleich.
Johannes Varwick: Wenn das richtig ist, dann hätte es nur zwei Möglichkeiten gegeben, den Krieg zu verhindern. Entweder wir hätten die Ukraine militärisch verteidigt, also schnell in die NATO aufgenommen oder erklärt, dass ein Angriff gegen sie faktisch ein Bündnisfall wäre. Oder wir hätten früher und mehr Waffen in die Ukraine liefern und ihr damit gewissermaßen viel Glück wünschen müssen. Beide Optionen halte ich für nicht besonders verantwortlich.
Herr Näbig, Sie befürworten Waffenlieferungen.
Roger Näbig: Wenn ich sehe, wie sich die Ukraine schlägt, muss ich sagen: Ja, die Waffenlieferungen waren genau das Richtige. Eigentlich waren es noch zu wenig. Die Panzerabwehrwaffen und die Flugabwehrraketen setzen Russland militärisch massiv zu. Man kann Russland nur durch einen Abnutzungskrieg dazu bringen, an den Verhandlungstisch zu kommen. Das ist, was gerade passiert.
Johannes Varwick: Ich bin gegen Waffenlieferungen, nicht aus pazifistischen Erwägungen oder weil ich der Meinung wäre, dass Probleme nie militärisch gelöst werden können. Aber in dieser Konstellation, in der Russland zu allem entschlossen ist, werden Waffenlieferungen nichts am Kräftegleichgewicht ändern, sondern den Konflikt nur blutiger und länger machen. Ich habe der ukrainischen Regierung keine Ratschläge zu geben. Wenn die ukrainische Regierung kämpfen will, dann ist das ihr gutes Recht, und ich kritisiere das nicht. Ich kritisiere aber, dass die deutsche Regierung und andere Regierungen die Ukraine ein Stück weit verheizen. Von russischer Seite sind die Eskalationsmöglichkeiten noch nicht annähernd ausgeschöpft. Ich befürchte, dass wir in den nächsten Wochen erleben werden, dass dieser Krieg massiv eskaliert. Bislang fährt Russland gewissermaßen mit angezogener Handbremse. Es kann diese Handbremse aber noch lösen. Der Blutzoll der Ukrainer wird dann ungleich höher sein. Waffenlieferungen werden daran nichts ändern.
Der ukrainische Präsident Selenskyj argumentiert, dass die Ukraine gerade einen Abwehrkampf für Europa führt; dass nach der Ukraine andere Länder dran sind, Moldau, Georgien, die baltischen Staaten und Polen.
Roger Näbig: Ich halte diese Gefahr für sehr real, denn das Vorgehen Russlands ist seit 2014 auf Konfrontation angelegt. Sollte Russland jetzt tatsächlich seine geopolitischen Vorstellungen in der Ukraine durchsetzen, sehe ich sowohl fürs Baltikum als auch für Polen, aber auch mit Blick auf Finnland erhebliche Probleme auf uns zukommen. Aus meiner Sicht sind die Waffenlieferungen auch deshalb sinnvoll, weil Putin durch einen Abnutzungskrieg gezwungen werden kann, sich bei den Verhandlungen zu bewegen. Es scheint ja, als sei ein Regimewechsel nicht mehr das russische Ziel. Jetzt will Russland eine Neutralität der Ukraine erreichen. Das wäre garantiert anders gewesen, wenn die Ukraine nach drei Tagen militärisch zusammengebrochen wäre.
Johannes Varwick: Ich glaube nicht, dass Russlands Plan ist, im Baltikum anzufangen, bei Polen weiterzumachen und am Ende in Berlin zu stehen. Das würde die russischen Kräfte vollkommen überfordern. Wichtig ist: Estland, Lettland, Litauen und Polen sind NATO-Mitglieder. Die NATO und auch die USA als Führungsmacht des Bündnisses haben unmissverständlich deutlich gemacht, dass ein Angriff auf NATO-Territorium den Dritten Weltkrieg auslösen würde. Ich erwarte in keiner Weise, dass Russland das riskiert. Moldawien und Georgien sind eine andere Frage. Auch da müssen wir auf Containment setzen, also versuchen, die russische Macht einzudämmen. Aber die NATO würde weder für die Moldawier noch für die Georgier in den Krieg ziehen. Das muss man deutlich sagen.
Putin hat in einer seiner Reden gesagt: Wer sich die Sowjetunion nicht zurückwünscht, hat kein Herz, und wer sie wiederherstellen möchte, hat keinen Verstand. Ich nehme ihn nicht wörtlich und nicht allzu ernst. Aber ich gehe davon aus, dass Putin nicht daran interessiert ist, die politische Landkarte Europas auf den Stand von 1990 zu drehen. Er will die Ukraine als Sicherheitsgürtel. Dafür zahlt er jeden Preis.
Wäre eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine für Putin akzeptabel? Denn der Konflikt hat seine Wurzel ja im Streit um ein Assoziierungsabkommen der Ukraine mit der Europäischen Union 2013, das Putin verhindern wollte.
Johannes Varwick: Fest steht, dass die Frage einer EU-Mitgliedschaft aus russischer Sicht nicht so aufgeladen ist wie die Frage der NATO-Mitgliedschaft. Fest steht aber auch, dass die Ukraine in keiner Weise reif für die EU-Mitgliedschaft ist. Das ist ein Generationenprojekt. Aber genauso fest steht für mich, dass eine ökonomische und politische Verankerung der Ukraine im Westen - die ich mir wünsche und die ich auch dem ukrainischen Volk wünsche - nicht zulasten russischer Interessen gehen darf. Wenn wir über eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine reden, müssen wir auch über eine gesamteuropäische Freihandelszone von Wladiwostok bis Lissabon nachdenken - heute eine völlige Utopie, ich weiß. Aber die müssen wir wieder auf die Agenda setzen, damit Russland nicht das Gefühl hat, seine Interessen würden beschädigt. Aber das ist heute kein populärer Gedanke.
Roger Näbig: Ich habe seit dem 17. Dezember kein Wort in den offiziellen russischen Statements gehört, in dem ein Beitritt der Ukraine zur Europäischen Union abgelehnt worden wäre. Allerdings gibt es hier ein ähnliches Problem wie mit der NATO: Auch die EU schiebt den Beginn des Beitrittsprozesses seit Jahren auf die lange Bank. Innenpolitisch wäre eine EU-Mitgliedschaft für Russland ein Riesenproblem - wie gesagt, eine wirtschaftlich erfolgreiche Ukraine wäre eine Bedrohung für Putins Regime. Dazu kommt: In der EU-Verfassung findet sich unter Artikel 42, Absatz 7 eine Beistandsklausel, die in meinen Augen noch weiter geht als Artikel fünf des NATO-Vertrages. Russland wäre daher von einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine sicher nicht begeistert. Aber von der Argumentation, dass eine EU-Mitgliedschaft nicht zulasten Russlands gehen darf, halte ich gar nichts.
Laufen wir beim Ziel einer europäisch-russischen Freihandelszone nicht Gefahr, uns schon wieder von einem Russland abhängig zu machen, das unberechenbar und unzuverlässig ist? War das nicht der zentrale Fehler der deutschen Russland-Politik der letzten Jahre und Jahrzehnte?
Johannes Varwick: Ich halte den Ansatz von Angela Merkel, die im Übrigen bis vor wenigen Wochen als Göttin der deutschen Politik galt, nach wie vor für richtig: dass man durch gegenseitige Abhängigkeit auch Einflussmöglichkeiten hat.
Ist Merkels Russlandpolitik nicht zusammen mit Nord Stream 2 im Mülleimer der Geschichte gelandet?
Johannes Varwick: Der Versuch ist gescheitert, aber er war trotzdem richtig. Es wird auch wieder die Stunde kommen, wo solche Gedanken wieder auf die Agenda gehören. Das ist aber jetzt erst mal durch die russische Aggression verbaut. Darin liegt auch eine Tragik, weil Russland sich mit diesem Krieg natürlich massiv selbst schadet und am Ende als Verlierer daraus hervorgehen wird. Militärisch wird Russland den Krieg für sich entscheiden. Aber politisch wird Russland einen hohen Preis zahlen - vielleicht zerfällt sogar das russische Reich.
Herr Näbig, was glauben Sie, wie der Krieg endet?
Roger Näbig: Um es sehr zugespitzt zu sagen: Wenn Putin es nicht schafft, dass russische Panzer irgendwann auf dem Maidan in Kiew stehen, dann wird er in meinen Augen innenpolitisch massive Probleme bekommen. Abgesehen davon denke ich, dass die deutsche Russlandpolitik nach dem Motto "Wandel durch Handel" krachend gescheitert ist. Die Schuld daran würde ich nicht Frau Merkel geben. Russland hat einfach nicht erkannt, welche Chancen dem Land dadurch geboten wurden.
Mit Johannes Varwick und Roger Näbig sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de