Brigadier Eder bei ntv.de "Putin sieht, dass es Probleme mit der Moral seiner Truppen gibt"
17.10.2022, 16:39 Uhr (aktualisiert)
Mobilisierte Soldaten auf einem Foto der russischen Staatsagentur Tass. "Ich denke, dass die ersten Soldaten aus dieser Mobilisierungswelle vor allem dazu dienen, Ausfälle zu kompensieren", sagt Philipp Eder.
(Foto: picture alliance/dpa/TASS)
Der österreichische Militärstratege Philipp Eder sieht Anzeichen dafür, dass es in der russischen Armee ein Motivationsproblem gibt. Die Russen seien in ein fremdes Land geschickt worden. "Die Ukrainer dagegen kämpfen für ihr Land. In diesem Sinne dürfte auch die Annexion der vier ukrainischen Provinzen durch den russischen Präsidenten zu verstehen sein", so Eder im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Die ukrainische Offensive dauert nun schon mehr als einen Monat an. Rückt die Ukraine im Nordosten und im Süden noch immer vor oder ist es wieder ein Stellungskrieg?
Philipp Eder: Nein, es ist kein Stellungskrieg. Nehmen wir zunächst den Nordosten: Dort rückt die Ukraine weiterhin vor - langsamer als vor zwei oder drei Wochen, aber sie nimmt dort stetig eine Ortschaft nach der anderen ein. Im Süden, im Raum Cherson, sind die Ukrainer in den letzten Tagen rund 30 Kilometer vorgerückt. Dort gibt es nach unseren Informationen Versuche der Russen, Gegenangriffe durchzuführen, die aber scheitern.

Brigadier Philipp Eder ist Leiter der Abteilung Militärstrategie im österreichischen Bundesministerium für Landesverteidigung.
(Foto: ntv)
Worauf gründet der aktuelle Erfolg der ukrainischen Armee vor allem?
Der hat viele Gründe. Ein wichtiger Faktor sind Schwächen der russischen Armee, die die Ukrainer beinhart ausnutzen. Wenn sie erkennen, dass eine Stelle nur schwach verteidigt wird, nutzen sie das sofort aus. Dabei hilft ihnen die Aufklärungsunterstützung von Verbündeten, vor allem der USA und Großbritanniens. Sie machen auch eigene taktische Aufklärung am Gefechtsfeld, und beides verbinden sie zu einem Lagebild. Bereits seit Beginn des Kriegs beobachten wir, dass die Ukrainer über ein sehr gutes Lagebild verfügen, was die Verschiebungen russischer Truppen betrifft. Sie wissen auch, wo sich in der Tiefe logistische Einrichtungen befinden, die sie treffen müssen, damit den Soldaten vorne Nachschub und Munition ausgehen. Das können sie vor allem, und das ist ein weiterer Faktor, seit sie weitreichende westliche Artilleriesysteme haben. Ein weiterer Punkt sind die westlichen Lieferungen bodengebundener Luftabwehr. Sie sorgen dafür, dass die russischen Streitkräfte keine Luftüberlegenheit erzielen können. Das ist wirklich verblüffend: Die Ukrainer verfügen kaum mehr über eigene Luftstreitkräfte, aber die Russen können sich diesen Vorteil nicht zunutze machen.
Halten Sie es für möglich, dass die Ukraine es schafft, die Stadt Cherson zu befreien?
Das hängt von der Versorgungslage der russischen Streitkräfte ab. Die Ukrainer haben schon vor einigen Wochen die Brücken über den Dnipro zerstört oder zumindest so stark beschädigt, dass der Nachschub nicht im nötigen Ausmaß zu den Truppen am Westufer kommen kann. Auch die Explosion auf der Kertsch-Brücke spielt in diesem Zusammenhang sicherlich eine Rolle. Wenn den russischen Truppen in Cherson Munition, Treibstoff und Verpflegung ausgehen, dann ist sicher denkbar, dass die ukrainischen Streitkräfte ihre Offensive hier fortsetzen können.
Die Frage ist auch, wie gut die frischen Kräfte ausgerüstet sind, die mit der Teilmobilmachung kommen. Mittelfristig schaffen es die Russen vielleicht auch, die Brücken zu reparieren. Im Moment geht es für die Russen aber darum, die Verteidigung dort zu festigen. Die Ukrainer dagegen wollen die Russen dazu drängen, Cherson aufzugeben, vielleicht sogar kampflos, indem sie ihnen den Nachschub abschneiden.
Belarus und Russland wollen einen gemeinsamen Truppenverbund aufstellen. Hat das Folgen für den Krieg gegen die Ukraine?
Belarus wurde von den Russen ja bereits zum Beispiel als Abschussbasis für Raketen verwendet. Es gibt Berichte, dass russische Truppen ohne Gerät nach Belarus verlegt werden, vermutlich Reservisten. Damit baut Russland eine Drohkulisse auf und zwingt die Ukraine, ebenfalls Truppen an die Grenze zu Belarus zu bringen. Mithilfe von Belarus vergrößert die russische Seite so das Gefechtsfeld. Mich hat schon nach dem Abzug der russischen Armee aus dem Raum Kiew gewundert, warum Russland nicht Truppen in der Region belassen hat, entweder nördlich von Kiew oder jenseits der Grenze in Belarus, um dort ukrainische Truppen zu binden. Das scheint Russland nun nachholen zu wollen. Ob jemals aus Belarus ein Angriff erfolgen wird, wissen wir nicht - derzeit gibt es keine Anzeichen, dass Offensivpotenziale der Russischen Föderation dorthin geschickt werden.
Für wie nachhaltig halten Sie die aktuelle Offensive der Ukraine?
Seit Beginn der Offensiven sieht man, dass die russischen Streitkräfte dem derzeit nichts entgegenzusetzen haben. Solange die russischen Streitkräfte nicht in der Lage sind, selbst wieder initiativ zu werden, können die Ukrainer das ausnutzen. Die weitere Entwicklung hängt stark davon ab, wie weit es den russischen Streitkräften gelingt, mit dieser Teilmobilmachung Personal und Gerät in den Nordosten und Südwesten zu bringen. Derzeit liegt die Initiative jedenfalls taktisch eindeutig bei den Ukrainern.
Die ersten Soldaten aus der Mobilmachung sollen bereits an der Front angekommen sein.
Derzeit sieht man noch keine Folgen. Ich denke, dass die ersten Soldaten aus dieser Mobilisierungswelle vor allem dazu dienen, Ausfälle zu kompensieren. Derzeit sehen wir noch nicht, dass so viele frische Truppenverbände ins Gefechtsfeld kommen, dass es für den Aufbau einer neuen Offensive reicht. Vielleicht passiert das noch, aber derzeit sieht es eher so aus, als würden die Reservisten Lücken füllen, die in den letzten Monaten entstanden sind.
Wie schätzen Sie die Moral der russischen Truppen ein?
Das ist aus der Ferne schwer zu beurteilen. Berichte legen aber nahe, dass es damit offensichtlich ein Problem gibt. Ich denke, dass dies von Verband zu Verband sehr unterschiedlich sein wird. Es dürfte Verbände geben, die hochmotiviert sind, und andere, in denen Soldaten kämpfen, die ihre Verträge vor dem Krieg unterschrieben haben und nicht damit gerechnet haben, in die Ukraine geschickt zu werden. Die Ukrainer dagegen kämpfen für ihr Land. In diesem Sinne dürfte auch die Annexion der vier ukrainischen Provinzen durch den russischen Präsidenten zu verstehen sein: Putin sieht, dass es Probleme mit der Moral seiner Truppen gibt. Durch die Annexion meint er, dass die russischen Soldaten nun auch ihre Heimat verteidigen und nicht mehr Operationen auf fremdem Gebiet durchführen.
Wie lange kann die Ukraine diesen Krieg personell durchhalten?
Das kann man nicht einschätzen, denn wir wissen nicht genau, wie viele Ausfälle es bereits gegeben hat. Die Ukrainer haben schon mehrere Mobilmachungswellen durchgeführt. Am Ende hängt es von der Stärke der russischen Armee ab: Je schwächer die Russen sind, umso weniger Kräfte brauchen die Ukrainer. Langfristig ist das geringere Potenzial sowohl an Personal wie auch an Material natürlich die größte strategische Schwäche der Ukraine.
Was bringen die iranischen Drohnen der russischen Armee?
Sie sind ein interessantes Mittel, um die eigene Einsatzführung zu verstärken - interessant deswegen, weil es keine russischen Drohnen sind. Es ist schon ein Zeichen, dass eine Armee wie die russische es nötig hat, iranische Drohnen zu kaufen. Da gibt es offensichtlich eine Fähigkeitslücke, die die Russen so schließen.
Und kann man schon sehen, ob die Drohnen einen Vorteil bieten?
Ich würde mal sagen, es ist so ähnlich wie bei den türkischen Drohnen, die die Ukraine einsetzt: Das sind wichtige Einsatzmittel, die im Gefechtsfeld eine Rolle spielen, aber einen strategischen Umschwung erzielen sie nicht. Die Drohnenkriegsführung ist inzwischen ein normaler Teil des so genannten Kampfes der verbundenen Waffen. Drohnen werden verwendet, um nicht bemannte Flugzeuge einsetzen zu müssen in einem doch sehr gut abgesicherten Luftraum.
Wie groß ist das Raketenarsenal der Russen noch? Wie lange können sie noch Städte in der Ukraine beschießen?
Das ist eine spannende Frage, auf die es leider keine Antwort gibt. Keine Armee der Welt gibt derartige Bestände bekannt - nicht einmal Verbündeten. Es gibt schon länger Spekulationen, dass den russischen Streitkräften die Präzisionswaffen ausgehen. Aber in den vergangenen Tagen haben sie wieder eine ziemliche Anzahl eingesetzt. Es ist also noch etwas da. Auf der anderen Seite ist es sicher so, dass die russischen Streitkräfte einen gewissen Sperrbestand zurückhalten, weil sie ihre Kräfte auch gegenüber anderen potenziellen Gegnern - der NATO, vielleicht auch China - nicht komplett entblößen wollen. Aber wie lange Russland noch über Raketen verfügt, kann man nicht seriös prognostizieren.
Haben Sie eine Theorie, wie lange dieser Krieg noch dauert?
Nein. Klar ist: Beide Parteien haben ihre Kriegsziele noch lange nicht erreicht. Es ist auch nicht erkennbar, dass eine von beiden Seiten in diesem Jahr noch in die Nähe ihrer Kriegsziele kommen wird. Solange der politische Wille da ist, diesen Krieg weiterzuführen, ist auf der strategischen Ebene keine Änderung erwartbar. Die Russische Föderation hat Probleme, das sieht man. Inwieweit die Teilmobilmachung ihr hilft, das wird man sehen. Und die ukrainischen Streitkräfte, das halten sie ja auch nicht geheim, sind abhängig davon, dass vom Westen nicht nur Waffen, sondern auch Munition und andere Mittel kommen, um diesen Krieg weiterführen zu können.
In Vietnam und Afghanistan haben Atommächte jahrelang Kriege geführt und am Ende verloren. Wenn Sie diese Kriege mit dem Krieg in der Ukraine vergleichen: An welche Stelle befinden wir uns? Eher am Anfang oder eher am Ende?
Ich glaube nicht, dass man diesen Vergleich ziehen kann. Implizit sprechen Sie damit die Frage an, ob Russland Atomwaffen einsetzen wird. Da gibt es einen Unterschied: Anders als beim Krieg in der Ukraine ging es in Afghanistan und in Vietnam für die dort beteiligten Atommächte nie um die Heimat. Da ging es um andere strategische Ziele, und daher hat damals kein politisch Verantwortlicher auch nur daran gedacht, Atomwaffen einzusetzen - Gottseidank. Für Putin scheint es in der Ukraine allerdings schon um eine Art "Heimat" zu gehen. Aber dies ist eine Frage, die nur er beantworten kann, alles andere wäre Spekulation.
Die russische Militärdoktrin sieht vor, dass Nuklearwaffen nur eingesetzt werden dürfen, wenn das Überleben Russlands auf dem Spiel steht. Davon sind wir noch sehr weit entfernt. Aber das ist ein rationaler Ansatz. Was der russische Präsident darüber denkt, das weiß ich nicht.
Mit Philipp Eder sprach Hubertus Volmer
(Dieser Artikel wurde am Freitag, 14. Oktober 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de