Politik

Wie ein Dorf stirbt Null Hoffnung im Oderbruch

"Schwierige und die Menschen belastende Veränderungsprozesse" hat Bundeskanzler Gerhard Schröder angekündigt. Morgen will er die Reformen zur Erneuerung des Gesundheitswesens, des Arbeitsmarkts und der Gemeindefinanzen in einer Regierungserklärung erläutern. Sie sollen bis zur Jahresmitte gesetzlich geregelt sein; unter anderem soll die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes deutlich verringert werden. Gewerkschaften und SPD-Linke warnten bereits vor einem „Sozialhilfestaat“.

In den neuen Bundesländern liegt die Arbeitslosigkeit über dem gesamtdeutschen Durchschnitt. Das Land Brandenburg gehört mit einer Erwerbslosenquote von 20 Prozent zu den Ländern mit der höchsten Arbeitslosigkeit. Und selbst dort gibt es noch Steigerungen, wie die Nachrichtenagentur dpa aus der Oderbruch-Gemeinde Bleyen-Genschmar nahe der polnischen Grenze berichtet: Mehr als die Hälfte der 600 Einwohner ist derzeit ohne Job – 57,6 Prozent.

Verlorene Generation

Im Gemeindezentrum kreisen alle Gespräche um dieses Thema. Die versammelten Einwohner gehören ausnahmslos der „verlorenen Generation“ an, sind 40 bis 60 Jahre alt und arbeitsfähig - aber ohne Aussicht auf einen Job. Der größte Betrieb des Ortes ist gerade in die Insolvenz gegangen; etwa 25 Arbeitsplätze stehen in dem landwirtschaftlichen Unternehmen auf dem Spiel. Andere Arbeitgeber jenseits von Autowerkstatt und Fensterbau gibt es keine.

Die Kommune stehe der Misere machtlos gegenüber, so Bürgermeister Heinz Wilke. „Wir haben eigentlich keine Möglichkeiten.“ Eine Senkung der Gewerbesteuer könne kaum helfen – das Gewerbesteueraufkommen im vergangenen Jahr habe gerade mal 100 Euro betragen! Für mehr Beschäftigungs- und Weiterbildungsprogramme fehlt der Gemeinde das Geld. Bereits jetzt arbeiten 30 Menschen in Arbeitsbeschaffungs- (ABM) und Strukturanpassungsmaßnahmen (SAM).

Diplom-Ingenieur Manfred Specht ist SAM-Kraft im „Kinderring“, für den er Computer repariert. Eine feste Stelle wird für ihn kaum zu finden sein. Genschmar möchte er trotzdem nicht verlassen. „Ich bin hier geboren. Man hängt an dem Dorf.“ Dessen Gemeinschaft mit Schützenverein, Angelclub und Heimatverein bietet den Menschen Rückhalt.

Nur die Alten bleiben

Im Gemeindehaus gibt es einen Internet-Raum für die Jugendlichen, und die jüngsten Kinder lernen Polnisch. Die Feuerwehr ist im letzten Jahr Landesmeister geworden. Schließlich erweist sich der Ort in Finanzsachen als Musterknabe: „Der Haushalt ist immer noch einigermaßen ausgeglichen“, stellt der Bürgermeister fest.

Aber so wird es nicht mehr lange sein; die Jugendlichen ziehen auf der Suche nach Arbeit und Zukunft in die alten Bundesländer, nur die Alten bleiben zurück. Der 19-jährige David Krahl hat in Berlin eine Lehrstelle als Tischler gefunden. „Dennis ist in München, der eine Stefan in Salzgitter, der andere Stefan am Bodensee“. Nach Genschmar zurückziehen will David nicht: „Hier ist ja nischt.“

Zauberwort Tourismus

Die Genschmarer und Bleyener fühlen sich im Stich gelassen von der großen Politik. „Alle haben mal Hoffnung gehabt, aber nach zwölf Jahren?“, fragt Wilke. Vor der Wende fanden alle Arbeit in der Landwirtschaft; seitdem ist nichts an ihre Stelle getreten. „Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann haben wir hier bald Naturschutzgebiet“, witzelt das 69-jährige Gemeinde-Oberhaupt mit Galgenhumor. „Dann können unsere Jugendlichen zurückkommen und sich hier erholen.“

Das Zauberwort heißt nun „Tourismus“. Schließlich bietet der vom Preußenkönig Friedrich dem Großen vor rund 250 Jahren kultivierte Landstrich Einsamkeit und Natur pur. Aus dem einstigen Sumpfgebiet wurde später „Berlins Gemüsegarten“, der vielerorts an küstennahes Marschenland erinnert. Wilke sieht die Chancen, Erholungssuchende anzulocken, realistisch – aber erst in zehn Jahren. „Da muss von Bund und Land noch viel getan werden. Wenn die Infrastruktur nicht stimmt, kommt auch kein Urlauber.“

Quelle: ntv.de

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