Gerhart Baum im Interview "Putin würde sich über uns lustig machen"
29.03.2023, 11:29 Uhr
Gerhart Baum, mittlerweile 90 Jahre alt, hat nach 1945 keine Krisenzeit erlebt wie die jetzige. Der frühere FDP-Politiker war von 1978 bis 1982 Bundesinnenminister in der sozialliberalen Koalition unter Helmut Schmidt.
(Foto: IMAGO/Political-Moments)
Tage- und nächtelang ringt die Ampelkoalition um Kompromisse in mehreren Streitfragen. FDP-Elder-Statesman Gerhart Baum räumt im ntv.de-Interview ein, dass das kein gutes Bild abgibt. Er wirbt aber auch um Verständnis und sagt, wie die FDP wieder das Vertrauen ihrer Wähler gewinnen könnte. Und warum Verhandlungen mit Putin völlig falsch wären.
ntv.de: Gerade haben sich die Ampelkoalitionäre die Köpfe heißverhandelt. Was geht Ihnen durch den Kopf bei so einem Schauspiel?
Gerhart Baum: Einmal sehe ich angesichts der Lage die Schwierigkeiten, sich zu einigen. Wir haben eine Zeitenwende, einen Epochenbruch, in dem Kompromisse schwieriger geworden sind. Es gibt so viele Krisen auf einmal: Der Krieg in der Ukraine, die Klimakatastrophe, die weltweite Inflation, die mangelnde Vorsorge für Verteidigung und Infrastruktur. Das alles kostet sehr viel Geld und sehr viel Kraft. Das möchte ich mal zur Entschuldigung der Ampelkoalition sagen. Dann kommt noch hinzu, dass in der Ampel drei verschiedene Schwerpunkte versammelt sind: Das Soziale, das Ökologische und das Liberale. Sie müssen zueinanderfinden, sich aber auch verändern. Auf der anderen Seite ist die Art, wie sie miteinander umgehen, abstoßend. Diese übertriebenen öffentlichen Profilierungsversuche schaden allen. Sie müssen ein Verfahren finden, sich zu einigen, um auch die Bürger überzeugen zu können.
SPD, Grüne und FDP sind mit viel Elan gestartet. Jetzt scheint der Ampel aber auch der Wille zur Einigung abhandengekommen zu sein.
Als sie gestartet sind, gab es keinen Ukraine-Krieg. Der hat die Welt verändert und wird sie auch dauerhaft verändern. Das ist ein Angriff auf die Demokratien dieser Welt, auf unsere Weltordnung, mit einer Massivität und Skrupellosigkeit, das konnte man nicht vorhersehen. Es geht jetzt um die Verteilung der knapper werdenden Mittel. Die Aufbruchstimmung ist massiv gestört worden durch den Krieg.
Aber große Fragen wie das Verbot des Neueinbaus von Gasheizungen oder die Planungsvereinfachung für Autobahnen stellten sich auch schon vor dem Krieg.
Es gibt jetzt konkurrierende Ziele: Der Ukraine zu helfen und die Kriegsgefahr zu bannen, uns verteidigungsfähig zu machen und die Klimakatstrophe zu bekämpfen. Das kommt alles zusammen. Das Bild der Koalition ist nicht gut. Ich will das gar nicht entschuldigen. Das hat bei der FDP aber nicht nur mit der Ampel zu tun. Sie hat schon vorher verloren. Sie muss jetzt ihren Weg neu definieren. Sie muss jetzt neu ausbuchstabieren, was Freiheit, Freiheit in Verantwortung, angesichts dieser Krisen bedeutet. Auch die Grünen müssen sich überlegen, ob sie den Bürgern im Moment wirklich so viel zumuten können. Oder ob man nicht lieber modernisiert und entbürokratisiert und mehr Luft schafft für Eigeninitiative.
Robert Habeck sagt, die Grünen wollten Fortschritt, die anderen bremsten nur. Warum stellt sich die FDP ständig quer?
Diesen Eindruck wird sie nicht los. Dabei bremst sie auch Dinge aus, die absolut nicht gehen, zum Beispiel in der Steuerpolitik. Andererseits gestaltet die FDP auch, sie macht ja mit! Denken Sie an das Sondervermögen für die Bundeswehr, die Abfederungen bei den Energiepreisen oder neue Sozialprojekte wie das Bürgergeld oder die Erhöhung des Kindergeldes. Die FDP muss deutlich machen, dass die Ampel auch ihr Projekt ist, dass sie will, dass sie Erfolg hat. Sie muss weg von diesem Geruch, der ewige Verhinderer zu sein. Zum Teil ist sie das zwar zu Recht. Vor allem muss sie nun aber ihre Gestaltungskraft in der Koalition sichtbar machen und stärken.
Fünf Landtagswahlen sind für die FDP nicht gut gelaufen. Entweder flog sie aus der Regierung oder gleich aus dem Parlament. Hat die Partei Angst vor den Wählern?
Die FDP versucht jetzt, sich zu profilieren und das ist auch ihr gutes Recht. Nur sollte sie das so machen, dass es nicht nach Panik aussieht. Sie muss es mit überzeugenden Argumenten tun. Sie muss über ihren Kurs nachdenken, darüber diskutieren. Als die FDP 2020 in Hamburg verloren hat, gab es noch gar keine Ampel. Im selben Jahr kam sie auch in Sachsen nicht wieder in den Landtag. Die Misere sitzt also tiefer. Es darf jetzt nicht so erscheinen, dass sie mutwillig provoziert, nur um den Wählern zu imponieren. Ich habe Zweifel, dass der Wähler das so annimmt. Sie muss auch Rücksicht auf die anderen Parteien in der Koalition nehmen, aber die müssen auch Rücksicht auf sie nehmen.
Wie kriegt man das jetzt hin, dass die nächsten zweieinhalb Jahre besser werden? Braucht es ein Machtwort von Scholz?
Mit zwei Parteien ist es schon nicht einfach für einen Bundeskanzler, aber es geht. Mit drei Parteien ist es sehr schwierig geworden. Der Bundeskanzler muss austarieren. Aus meiner Sicht wartet er oft zu lange ab. Er muss dafür sorgen, dass die Hauptstreitpunkte lautlos vorbesprochen und geklärt werden. Er sollte nicht warten, bis die ganze Öffentlichkeit in Aufruhr ist und gebannt auf eine Klausur blickt, die sich immer weiter verlängert. Warum kann man solche Dinge nicht vertrauensvoll klären, bevor man in so eine Konfrontation gerät?
Sie haben alle Bundesregierungen erlebt, die es gab. Erinnern Sie sich an eine Koalition, die so über Kreuz gelegen hat?
Es gab immer wieder schwere Streitigkeiten, aber die waren einfacher zu händeln, weil es nur Zweierkonstellationen gab. Ich will das aber gar nicht mit früheren Zeiten vergleichen. Die Situation, die wir jetzt haben, ist meiner Ansicht nach die schwierigste seit 1945. Wir haben eine Energiekrise, weltweite Inflation, eine neue Weltmacht China an der Seite Russlands, Schwierigkeiten im internationalen Handel. Hinzu kommt die Klimakrise. Die geostrategische, geoökonomische und geopolitische Situation ist einmalig. Das habe ich in dieser Massierung so noch nie erlebt.
Die größte Herausforderung unserer Tage ist der Krieg in der Ukraine. Die Menschen dort kämpfen um ihr Überleben. Sind Sie zufrieden mit der Rolle, die Deutschland einnimmt?
Grosso modo ja. Die Ukraine muss unterstützt werden, dazu gibt es keine Alternative. Man darf sie nicht dem russischen Diktator überlassen. Wenn das geschieht, dann macht er weiter, dann sind möglicherweise eines Tages wir dran. Er will Europa und die Welt spalten. Er will Unruhe stiften, er hält sich an keine Verträge. Die Bundesregierung und die große Mehrheit des Bundestages haben sich diese Sicht zu eigen gemacht und das finde ich richtig.
Sie haben den gesamten Kalten Krieg erlebt. Ist das jetzt die Rückkehr des Kalten Krieges?
Der Kalte Krieg hatte ja verschiedene Phasen. Wir haben damals eine neue deutsche Ostpolitik in die Wege geleitet, an der ich auch beteiligt war, und eine Phase der Entspannung eingeleitet. Die sowjetische Führung damals unterschied sich aber völlig von der heutigen russischen: Sie war vertragstreu. Die Verträge waren das Papier wert, auf denen sie geschrieben waren. Verträge mit Putin sind nichts wert. Er bricht alle Verträge. Insofern hat sich die Situation total geändert. Brandt und Scheel wären heute auf der Seite der Mehrheit des Deutschen Bundestages und nicht der Minderheit, die es auch noch in der SPD gibt.
Das heißt, eine Annährung wie damals ist kein Modell für heute?
Der Putin würde sich über uns lustig machen, wenn wir solche Annäherungen ernsthaft betrieben . Das ist ein zynischer Machtpolitiker, der über Leichen geht.
Frieden wollen eigentlich alle hierzulande. Die Frage ist nur wie. Eine Mehrheit unterstützt den Kurs der Bundesregierung. Es gibt aber auch viele, die Verhandlungen fordern. Ist das so falsch?
Ja, das ist absolut falsch. Erstens sind wir nicht diejenigen, die die meisten Opfer bringen. Das sind die Menschen in der Ukraine. Ihr Land und ihre Demokratie sollen vernichtet werden. Ihr Land soll ein russischer Vasallenstaat werden. Es wird gefoltert, es werden Kinder verschleppt, es wird vergewaltigt. Mörder sind freigelassen und in den Krieg geschickt worden. Ich weiß wirklich nicht, woher diese Vorstellung kommt, man könne jetzt verhandeln. Der Frieden ist nur herzustellen, wenn Freiheit gesichert ist! Frieden um jeden Preis ist demokratie- und freiheitsfeindlich. Wenn jetzt Gruppen fordern, die Waffenlieferungen einzustellen, dann ist das das Ende für die Ukraine! Das muss man ganz klar sagen.
Putin möchte Atomwaffen nach Belarus verlegen. Steigt dadurch die Gefahr einer nuklearen Eskalation?
Nein, überhaupt nicht. Die Russen können heute alle Teile der Welt mit ihren Atomwaffen erreichen. Das ist nichts Neues. Das ist eine Demonstration eines Kraftprotzes, der sagen will: Ich kann auch härter. Sein Argument, die NATO habe auch Atomwaffen, ist absolut abwegig. Die NATO befindet sich nicht im Krieg und hat kein Land überfallen. Er befindet sich im Krieg und macht jetzt eine neue Drohkulisse sichtbar. Darauf darf man nicht hereinfallen. Er hat die klare Absage der Chinesen und vieler Völker, der Mehrheit der Vereinten Nationen, dass er keine Atomwaffen einsetzen soll. Das weiß er. Außerdem: Sollen wir jeder Bedrohung nachgeben? Dann sind wir ja bis zum Ende erpressbar.
Es ist unklar, wie lange der Ukraine-Krieg noch dauert. Auch der Klimawandel ist eine gewaltige Krise. Gerade haben wir eine Pandemie hinter uns. Wie stehen wir das alles durch?
Die Deutschen sind ja in all diesen Fragen bisher standfest gewesen. Sie haben begriffen, dass sich die Zeiten geändert haben. Sie haben begriffen, dass die bequeme Normalität, in der sie gelebt haben, zu Ende ist. Sie haben begriffen, dass die Wohlstandsmehrung so nicht ungemindert weitergehen kann. Sie werden sich schon einrichten. Wissen Sie, ich gehöre der Kriegsgeneration an. Wir hatten damals nichts zu essen. Wir haben unser Leben in völlig zerbombten Städten neu organisieren müssen. Das will ich der jungen Generation nicht vorhalten, aber belastungsfähig müssen wir schon sein. Ich habe einige Hoffnung, dass wir das auch sind.
Mit Gerhart Baum sprach Volker Petersen
Quelle: ntv.de