Zum Tod von Egon Bahr Brandts Weggefährte und Freund
20.08.2015, 11:37 Uhr
Steht gemeinsam mit Willy Brandt für die Ostpolitik des "Wandels durch Annäherung": Egon Bahr.
(Foto: dpa)
Egon Bahr gilt als Architekt der neuen Ostpolitik, die von der Regierung Brandt umgesetzt wird. Überhaupt ist sein politisches Wirken eng mit dem von Willy Brandt verbunden. Bahr ist auch Zeuge erbitterter Machtkämpfe in der SPD.
Egon Bahr kann Herbert Wehners Rede auf der Sitzung der SPD-Bundestagsfraktion im Mai 1974 nur schwer ertragen. Im Zuge der Guillaume-Affäre war Kanzler Willy Brandt gerade bei Bundespräsident Gustav Heinemann, um dem Staatsoberhaupt seinen Rücktritt mitzuteilen. Nun schreit Wehner regelrecht und fuchtelt mit einem Blumenstrauß herum: "Willy, du weißt, wir alle lieben dich!" Das ist zu viel für Brandts politischen Mitstreiter und Freund Bahr. Ihm laufen Tränen über das Gesicht - diese Szene wird von Fernsehkameras aufgefangen. Nicht Brandts Rücktritt, sondern das in seinen Augen heuchlerische Auftreten des SPD-Fraktionschefs bringt ihn zum Weinen.
Bahr nimmt dem Fraktionschef diesen Auftritt übel, war es doch Wehner, der hinter den Kulissen die Brandtsche Demission intensiv betrieben hat. "Brandt führt nicht. Der Herr badet lau. Der Regierung fehlt ein Kopf", zitieren Nachrichtenagenturen den ehemaligen Kommunisten. Diese Äußerungen fallen ausgerechnet in Moskau. Bahr hat Wehner diese Illoyalität nie verziehen. Einer Zeitung vertraut er später an, dass Wehner ihn in diesen Tagen zu einer engen Zusammenarbeit aufgefordert hatte. Bahr: "Ich dachte, ich höre nicht recht, der will mich zum Mitinhaber seiner Ruchlosigkeiten machen."
Der Bundeskanzler und der Journalist sind einen langen Weg miteinander gegangen. Dabei war Bahrs Karriere in der SPD alles andere als vorgezeichnet. Erst 1956 - im Alter von 34 Jahren - tritt er der Partei bei. Nach Tätigkeiten bei mehreren Zeitungen im zerbombten Berlin arbeitet er von 1950 bis 1960 für den Sender Rias und bringt es zum Chefkommentator und Leiter des Bonner Büros. In dieser Zeit kreuzen sich bereits die Wege von Brandt und Bahr. Dem SPD-Hoffnungsträger gefallen die Kommentare des in Thüringen geborenen Sohnes einer aus Schlesien stammenden Lehrerfamilie.
Bahr zieht mit nach Bonn
So war es nur logisch, dass sich Brandt - seit 1957 Regierender Bürgermeister in West-Berlin - die Dienste dieses umtriebigen Mannes sicherte und ihn zu seinem Sprecher machte. Bahr plauderte gerne über sein "Bewerbungsgespräch" bei Brandt, bei dem er seinem neuen Chef klarmachte, dass er nicht nur ein Sprecher, sondern ein politischer Mensch sei, der auch mit Nachdruck seine Meinung vertrete. Brandt war einverstanden und es entwickelte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit, die sogar in eine persönliche Freundschaft mündete.

Brandts Kniefall in Warschau wird zum symbolischen Wendepunkt in der Ostpolitik der BRD.
(Foto: picture alliance / dpa)
Bahr war klar, dass Berlin-Politik in der Zeit des Kalten Krieges auch automatisch eine Bundesangelegenheit war. Der Bau der Mauer durch die DDR am 13. August 1961 stellte den Brandt-Senat und somit auch seinen Sprecher vor große Herausforderungen. Zumal es ein offenes Geheimnis war, dass sein Chef Brandt Höheres anstrebte - den Einzug ins Bonner Kanzleramt. Bereits zur Berliner Zeit tüftelte man über Papiere zur Änderung der Ostpolitik. "Wandel durch Annäherung" oder "Politik der kleinen Schritte": Diese Formulierungen gehen auf Bahr zurück.
Der Gang nach Bonn sollte nicht lange auf sich warten lassen. Mit der Bildung der Großen Koalition unter CDU-Kanzler Kurt Georg Kiesinger folgte Bahr Brandt in das Hauptstadt-Provisorium am Rhein. SPD-Chef Brandt wurde Außenminister und machte seinen Getreuen zum Leiter des Planungsstabes. Parallel zur Regierungsarbeit wurde an außenpolitischen Plänen für eine Regierungszeit unter sozialdemokratischer Führung gearbeitet. Bahr machte das, was er am besten konnte: konzeptionelle Hintergrundarbeit. Gleichzeitig näherten sich SPD und FDP an. 1969 wagte man trotz hauchdünner Mehrheit die sozial-liberale Koalition.
Bahr wird zum seltenen Mahner
Als Staatssekretär im Auswärtigen Amt hatte Bahr an der Verwirklichung der Konzepte gearbeitet, danach zog er als Staatssekretär im Bundeskanzleramt zu Brandt ins Palais Schaumburg. Bahr reiste als Unterhändler nach Moskau, Ost-Berlin und Warschau. Zu Beginn der 1970er-Jahre wurden Grundlagenverträge mit der kommunistischen Supermacht Sowjetunion und deren Satelliten DDR und Polen unterzeichnet. Auch zu anderen Staaten des sowjetischen Machtbereichs verbesserten sich die Beziehungen. Von der CDU/CSU-Opposition wurde diese Politik bekämpft, deren Vorsitzende Rainer Barzel und Franz Josef Strauß machten Stimmung gegen die neue Ostpolitik der Regierung Brandt/Scheel. Ein Hauptzielpunkt der Attacken war der Architekt dieser Politik - Egon Bahr.
Doch 1974 ist für Bahr die Arbeit im Kanzleramt Geschichte: Brandts Rücktritt war für seine politische Karriere einschneidend. Mit Bundeskanzler Helmut Schmidt verband ihn wenig. Der Hamburger berief Bahr zum Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und engte damit seinen Gestaltungsspielraum ein. Das Tischtuch zu Fraktionschef Wehner war ohnehin zerschnitten. Bahr blieb enger Gefolgsmann von Willy Brandt, der trotz seines Rücktritts als Kanzler weiter als SPD-Vorsitzender fungierte. Er ließ sich 1976 von diesem sogar zum Einzug in die SPD-Zentrale überreden, als Bundesgeschäftsführer. Mit Schmidt überwarf sich Bahr beim SPD-internen Streit über den Nato-Doppelbeschluss. Der Kanzler befürwortete diesen aufgrund der sowjetischen Bedrohung mit atomaren SS-20-Raketen vehement, Brandt und Bahr waren dagegen.
Danach wurde es stiller um Egon Bahr. Er saß noch bis 1990 im Deutschen Bundestag und äußerte sich lobend über die Reformpolitik von Michail Gorbatschow in der Sowjetunion. Nach dem Fall des eisernen Vorhangs 1989/90 analysierte er in TV-Auftritten das neue Ost-West-Verhältnis. Das Thema Russland ließ Bahr nicht los.
In der Diskussion um die russische Ukraine-Politik sorgte er noch einmal für Aufsehen. So forderte er im Herbst 2014 die Umsetzung des alten Konzepts gegenseitigen Respekts auf das Verhältnis zu Russland. "Wir haben die DDR nie völkerrechtlich anerkannt, aber respektiert", sagte Bahr bei n-tv: "Die Krim kann man natürlich genauso behandeln." Die Zurechtweisung durch Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der auch Genosse ist, kam postwendend.
Da war sie wieder, die Brandt vor 54 Jahren "angedrohte" eigene Meinung. Doch nun ist die Stimme dieses bedeutenden Außenpolitikers verstummt. Egon Bahr starb im Alter von 93 Jahren.
Quelle: ntv.de