Zeitenwende-Talk bei "Anne Will" "Nichts wird wieder so werden, wie es war"
20.03.2023, 01:40 Uhr
Während Putin "scheibchenweise Demokratie abgebaut hat", habe man in Deutschland die Augen verschlossen, sagt Wüstner.
(Foto: NDR/Wolfgang Borrs )
Über ein Jahr hat das Scholz-Schlagwort von der Zeitenwende auf dem Buckel, doch was hat sich seitdem getan? Die Lage hat sich verschlechtert, so die Wehrbeauftragte Högl. Auf die Frage, welche Lehren Deutschland daraus ziehen sollte, lautet eine Antwort bei "Anne Will": Es muss klarer kommuniziert werden.
Es gebe keine verteidigungsfähigen Streitkräfte, so sagte es Verteidigungsminister Pistorius. Es sei von allem zu wenig da, legte die Wehrbeauftragte Eva Högl nach. Dass diese ernüchternden Bestandsaufnahmen alles andere als neue Erkenntnisse sind, das machte der Zusammenschnitt gleich zu Beginn des Talks bei Anne Will klar. Da war zum Beispiel Wilfried Penner zu sehen und zu hören, von 2000 bis 2005 Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages, sinngemäß bei einer ähnlichen Bankrotterklärung, und das bereits vor 20 Jahren. "Zeitschleife statt Zeitenwende", lautet das vorweggenommene Fazit der Gesprächsrunde.
André Wüstner, Vorsitzender des Bundeswehrverbandes und Oberst, sorgte im Anschluss erst einmal für den politischen Kontext, indem er auf die Versäumnisse der vergangenen zwei Dekaden verwies. "Es kann nicht sein, was nicht sein darf", so hätte man auf Putins Schachzüge reagiert. Krim, Donbass, Syrien - "man wollte es einfach nicht sehen". Gerhart Baum, FDP-Bundesinnenminister a.D. - kürzlich 90 Jahre alt geworden und damit einer, der weiß, wie Krieg sich anfühlt - unterstrich das. Die Gefahren seien unterschätzt worden. "Wir sind im Frieden und es geht immer so weiter", das sei das Mindset gewesen.
"Es dauert alles sehr, sehr lange"
Während Putin "scheibchenweise Demokratie abgebaut hat", habe man in Deutschland die Augen verschlossen, sich stattdessen vielmehr im Alleingang für Nord Stream 2 entschieden. "Man wollte es nicht glauben", so Wüstner noch einmal. Dabei habe bereits das Weißbuch 2016 die strukturellen Probleme umfassend thematisiert, man habe jedoch nicht umgesteuert, "ein fataler Fehler".
Dass ein Jahr nach der proklamierten Zeitenwende die Beschaffungslage bei der Bundeswehr nicht nur stagniert, sondern laut Högl sogar noch prekärer geworden ist, liegt laut SPD-Politiker Ralf Stegner, MdB und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, unter anderem am Zeitfaktor. 80 Jahre lang habe man sich auf die USA verlassen. Den neuen Anforderungen gerecht zu werden, das ginge nicht von heute auf morgen.
Die Bereitschaft, der politische Wille zu Veränderungen, all das sei schon da, so Nicole Deitelhoff, Professorin für Politikwissenschaft, Friedens- und Konfliktforscherin, es käme jedoch darauf an, dass Entscheidungen überhaupt auch umgesetzt werden. Das ist der Knackpunkt: "Es dauert alles sehr, sehr lange". Alte Einstellungen, die Tendenz zum Abwarten, das sei tief verankert und nur schwerlich umzukehren. Für die "Neunmalklugen" sei es leicht im Rückblick zu kritisieren, konterte Stegner, man habe auf den Krieg vernünftig reagiert.
Während Gerhart vom "sich raushalten" als deutschem Sonderweg sprach, stellte Wüstner mit Blick auf die Zeitenwende die entscheidende Frage, bewegte sich dabei metaphorisch in kompatiblen Bildern: "Haben wir den Schuss gehört oder haben wir den Schuss noch nicht gehört?" Seine Antwort lieferte er gleich mit: "Man hat den Schuss noch nicht gehört!"
"Kommt endlich über den Zweiten Weltkrieg hinweg"
Dass die Deutschen im Hinblick auf ihre eigene Geschichte zögern, dass dieses "Nie wieder" immer auch eine Frage der eigenen Schuld ist, darüber war die Runde sich einig, gleichzeitig gehöre jedoch auch dieses Credo 80 Jahre danach auf den Prüfstand. "Kommt endlich über den Zweiten Weltkrieg hinweg", wurde ein Zitat von Kersti Kaljulaid, der ehemaligen Präsidentin Estlands, aus dem Tagesspiegel vom 11. März 2023 bemüht. "Je schneller das passiert, umso besser ist es. Es mag Zeit kosten, die eigene Geschichte zu reflektieren. Aber diese Zeit haben wir nicht."
Auf Zeit spielen, "auf Sicht fahren", wie Deitelhoff es ausdrückte - auch für Hedwig Richter, Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr München, eine der Wurzeln des Übels. Taktieren, debattieren, schönreden, ein parteipolitisches Dilemma, aber: "Demokratie ist nicht Demoskopie!".
Nicht nur die akute Lage im Fall des russischen Angriffskrieges verlange nach offener Diskussion, auch das Versagen der letzten drei Jahrzehnte auf breiter Linie - Energie, Bildung, Bau, Klima et al - gälte es klar zu benennen, mit dem Blick auf das, was die Zukunft bringe, in schonungsloser Offenheit, so Richter: "Es werden Zumutungen auf uns zukommen. Politik ist nicht hier mal 300 Euro Zuschuss, da mal 200. Es warten ganz andere Herausforderungen." Die letzten 30 Jahre, sie waren "eine Ausnahme".
"Nichts wird wieder so werden, wie es war", hatte Willy Brandt am Beginn dieser besagten gut 30 Jahre prognostiziert, am 10. November 1989 bei seiner Rede am Tag nach der Maueröffnung auf dem Balkon des Rathauses Schöneberg. Gemeint war das Ende der DDR, die Öffnung gen Westen, das nahende Ende des Kalten Krieges.
Ob André Wüstner Brandt bewusst zitierte, wurde nicht so ganz klar. Dass die Bedeutung dieser Worte aus seinem Mund, im März 2023, über ein Jahr nach Beginn des Krieges in der Ukraine, wenig hoffnungsvoll klangen, lässt sich jedoch kaum bestreiten: Nichts wird wieder so werden, wie es war, eine Perspektive, die auch nach einem Jahr der sogenannten Zeitenwende in den meisten Köpfen immer noch nicht angekommen scheint. Die Uhr tickt, das unterstrich Gerhart Baum am Ende noch einmal. Nie habe er in seinem langen Leben einen Epochenbruch so intensiv erlebt: "Die freie Weltordnung ist in Gefahr."
Quelle: ntv.de