Moskaus Milliarden für Kiew"Putins langer Arm könnte bis in die Brüsseler Geschäftsführung reichen'"

Die EU hat die Gelegenheit, Russlands Machthaber so richtig zu ärgern. Auf einem Gipfel entscheiden die EU-Mitgliedstaaten, ob 210 eingefrorene Milliarden der russischen Zentralbank Kiew zugutekommen sollen. Putin versuche, dies mit allen Mitteln zu verhindern, sagt Marie-Agnes Strack-Zimmermann.
ntv.de: Morgen auf dem EU-Gipfel fällt die Entscheidung darüber, ob die festgesetzten 210 Milliarden Euro an russischen Vermögenswerten in die Militärhilfe für die Ukraine fließen. Noch liegt das Geld beim Finanzunternehmen Euroclear an dessen Hauptsitz in Brüssel. Kanzler Friedrich Merz wirbt für die Nutzung der russischen Milliarden und spricht von einer "Schicksalswoche" für Europa. Hat er recht?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Das ist ohne Zweifel richtig. Es wird sich entscheiden, ob die EU in Zukunft in dieser Welt eine wesentliche globale Rolle spielen wird - oder ob sie auf dem Weg ist, eine internationale Nullnummer zu werden, die geopolitisch keiner mehr ernst nimmt und mit der dann auch keiner mehr am Tisch sitzen will.
Was würde denn die Ablehnung dieser Idee für Merz bedeuten, der für Deutschland eine neue Führungsrolle in der EU beansprucht?
Das wäre für Merz persönlich, für Deutschland und für ganz Europa ein Desaster - angesichts der riesigen weltweiten sicherheitspolitischen Herausforderungen, mit denen wir seit Jahren konfrontiert sind. Es wäre auch armselig angesichts der US-Sicherheitsstrategie, die nicht mehr transatlantisch ausgerichtet ist, sondern die Sichtweise Moskaus mehr denn je zu der ihren macht. Wenn die EU-Regierungschefs jetzt nicht selbstbewusst und entschlossen agieren, dann verzwergt sich die EU endgültig.
Falls ein Beschluss scheitert, wäre Russlands Präsident Wladimir Putin der große Gewinner und die Ukraine der große Verlierer. Müsste Kiew dann nächstes Jahr kapitulieren?
Die Nationen müssten dann in ihren jeweiligen Haushalten finanzielle Mittel bereitstellen, um Kiew auch zukünftig militärisch wie wirtschaftlich zu unterstützen. Anstelle dessen sind die eingefrorenen russischen Vermögenswerte jedoch besonders geeignet, weil Russland für all das Grauen, das es seit vier Jahren in der Ukraine anrichtet, zahlen muss. Scheitert der Beschluss, liegt der Ball wieder bei den einzelnen EU-Mitgliedstaaten.
Warum würde Putin die Nutzung des eingefrorenen russischen Vermögens besonders wehtun?
Russland ist wirtschaftlich am Ende. Allen voran die europäischen Rechten und Linken behaupten zwar, die bisherigen 19 EU-Sanktionspakete gegen Russland seien nicht wirkungsvoll - dahinter verbirgt sich allerdings eher Wunschdenken als Realität. Putin ließ im Februar 2022 seine Soldaten zum zweiten Mal nach 2014 in die Ukraine einmarschieren, in der Annahme, Kiew sei in wenigen Wochen erobert und die gesamte Ukraine unter Kontrolle. Auch nach vier Kriegsjahren ist er davon militärisch weit entfernt. Die russische Wirtschaft ist komplett auf Krieg eingestellt. Russlandexperten bestätigen, dass sie stagniert und dauerhaft mit hoher Inflation kämpft. Deshalb braucht Putin jeden Cent.
Laut einem 28-Punkte-Plan, den der Kreml mit dem Weißen Haus ausgehandelt hatte, sollte den USA teilweise Zugang zu dem eingefrorenen russischen Vermögen gewährt werden. Wäre US-Präsident Donald Trump sauer, wenn die USA auf diesen Zugang verzichten müssten?
Dieser sogenannte Friedensplan ist bereits Makulatur. Er wurde in Russland aufgesetzt. Trumps Gesandter Steve Witkoff hat den Russen - wie uns berichtet wurde - eine Anleitung gegeben, was sie tun müssen, um den US-Präsidenten im Sinne Russlands positiv zu stimmen. Der Plan sah dann auch prompt vor, die in Europa eingefrorenen russischen Vermögenswerte freizugeben, in eine von Washington verwaltete Investmentplattform zu überführen und darüber hinaus 50 Milliarden davon den USA zu überlassen. Dieser Vorschlag hat viele EU-Länder empört, denn die Vereinigten Staaten haben mit diesem Geld rein gar nichts zu tun.
Können Sie die Bedenken Belgiens verstehen, das sich bislang gegen die Verwendung der eingefrorenen Gelder sperrt?
Das kann jeder verstehen. Mit Belgien und dem Vermögensverwalter Euroclear wurde über Monate gesprochen. Belgien möchte im Fall einer erfolgreichen russischen Klage nicht allein für diese 150 Milliarden haften. Die europäische Antwort ist, dass selbstverständlich alle Mitgliedstaaten gemeinsam dafür geradestehen - auch Deutschland.
Nun hat Russland als Atommacht auch militärisches Drohpotenzial und lässt die Muskeln spielen. Vor wenigen Wochen sind russische Drohnen in den belgischen Luftraum eingedrungen. Ist die Angst der Belgier vor militärischer Vergeltung unbegründet?
Ganz Europa sollte alarmiert sein, allen voran die Länder mit direkter Grenze zu Russland. Putin übt auf alle europäischen Staaten in unterschiedlicher Weise Druck aus - in Griechenland genauso wie in Deutschland, Belgien oder den baltischen Staaten. Leider versucht auch das Weiße Haus, die europäischen Länder auseinanderzutreiben. Es gibt zudem ernste Hinweise darauf, dass der lange Arm Putins bis in die Geschäftsführung von Euroclear reicht. Der Versuch der Einflussnahme geht bis in die Büros der europäischen Institutionen. Es wird mit harten Bandagen gekämpft, Mitarbeiter werden persönlich bedroht.
Merz schätzt die Chancen für grünes Licht auf dem EU-Gipfel auf "fifty fifty". Sind Sie optimistischer?
Ich bin optimistisch, aber mir ist völlig klar, dass die Gespräche über die Nutzung des eingefrorenen russischen Vermögens bei diesem Treffen auf Spitz und Knopf stehen. Jede Regierung muss sich darüber im Klaren sein, worum es geht - nämlich um die Frage, ob wir in Europa unabhängiger werden und dadurch international ernster genommen werden. Das ist übrigens auch das Ziel des Verteidigungsausschusses des Europäischen Parlaments, dem ich vorsitzen darf: Europa soll stärker und militärisch endlich unabhängiger von den USA werden. Sollte es beim Treffen der Regierungschefs kein grünes Licht für die Freigabe der Mittel an die Ukraine geben, um sie für die kommenden zwei Jahre wirtschaftlich und militärisch abzusichern, wäre das ein Abgesang auf die europäische Idee, dass Europäer mutig und geschlossen den Frieden in Freiheit sichern müssen.
Mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann sprach Lea Verstl