Opposition kritisiert Behörden Rhein: Lübcke-Mord war nicht zu verhindern
20.01.2023, 16:53 Uhr
Erhielt nach eigenen Angaben viele Informationen aus Presseberichten: der frühere Innenminister und heutige Ministerpräsident Hessens, Boris Rhein.
(Foto: dpa)
Hätte der Verfassungsschutz vor dem Rechtsextremisten Stephan Ernst warnen müssen? Diese und andere Fragen treiben den Untersuchungsausschuss zum Mord an dem CDU-Politiker Lübcke um. Hessens früherer Innenminister Rhein verteidigt die Arbeit der Behörde. Die Opposition nennt sie "desaströs".
Der Täter sitzt längst im Gefängnis, doch der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke wirft immer noch viele Fragen auf, auch aus Sicht des hessischen Ministerpräsidenten. "Es treibt einen um, es treibt einen sogar sehr um, es treibt mich auch bis heute um - die Frage, hätte man das verhindern können", sagt Regierungschef Boris Rhein im Plenarsaal des Hessischen Landtags. "Hätte man was anders machen müssen, hätte man was wissen müssen, hätte man was spüren müssen", das seien alles Fragen, die "wenn man nicht aus Stein ist, einen natürlich umtreiben müssen".
Bei der jetzt schon 37. Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Mord an Lübcke sagte Rhein in Wiesbaden gut zweieinhalb Stunden lang als Zeuge aus. Der 51-Jährige war von 2010 bis 2014 hessischer Innenminister und davor Innen-Staatssekretär - war also führend in dem Ressort tätig, das auch für den Landesverfassungsschutz zuständig ist. Das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) hatte den späteren Lübcke-Mörder Stephan Ernst lange auf dem Radar. Doch auch wenn Ernst, der Lübcke 2019 auf dessen Terrasse im Kreis Kassel erschossen hatte, als Rechtsextremist aktenkundig war: Zum Tatzeitpunkt stand er nicht mehr unter besonderer Beobachtung.
Rhein betonte im Ausschuss, der Name Ernst sei ihm erst aus der Berichterstattung über die Tat ein Begriff geworden. In seiner Zeit im Innenministerium habe es keinerlei Hinweise gegeben, dass irgendwelche Straftaten gegen den Kasseler Regierungspräsidenten geplant gewesen seien, führte Rhein weiter aus. Lübcke hatte sich öffentlich für die Aufnahme von Flüchtlingen ausgesprochen und war so zum Hassobjekt von Rechtsextremisten geworden.
Im Januar 2021 verurteilte das Frankfurter Oberlandesgericht (OLG) Ernst wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Den Mitangeklagten Markus H., einen Freund von Ernst aus der rechten Szene, verurteilte das OLG zu einer anderthalbjährigen Bewährungsstrafe wegen eines Waffendelikts - aber nicht wie angeklagt wegen Beihilfe zum Mord an Lübcke. Rhein sagte, auch der Name H. sei ihm erst nach dem Mord bekannt geworden.
Auch Jan Böhmermann wird im Ausschuss erwähnt
So furchtbar der Fall auch sei, der Rechtsstaat habe funktioniert, betonte Rhein - "weil er den Täter seiner gerechten Strafe zugeführt hat". Dass Ernst innerhalb von nur zwei Wochen ermittelt und hinter Gitter gebracht worden sei, sei ein - wenn auch sehr schwacher - Trost. Rhein sagte aus, inzwischen komme er zu dem Schluss, dass "die bis heute unerklärliche und schreckliche Tat hätte nicht verhindert werden können". Rhein betonte, ihn habe die Ermordung Lübckes tief erschüttert - er habe ein freundschaftliches und enges Verhältnis zu ihm gepflegt.
Im Lübcke-Untersuchungsausschuss geht es auch um etwaige Bezüge zur rechtsextremen Terrorzelle NSU, dem sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrund". Dieser hatte über Jahre unerkannt mordend durch Deutschland ziehen können. Die Opfer der Rechtsterroristen waren neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft und eine Polizistin. Die Gruppe wurde 2011 bekannt.
Ein von seinem Innenministerium verhängtes Löschmoratorium habe nach dem Aufdecken des NSU verhindert, dass die Akten zu Ernst und H. gelöscht wurden, sagte Rhein im Ausschuss. Diese Akten seien dem Generalbundesanwalt bei seinen Ermittlungen zeitnah übermittelt worden. Das seit 2012 bestehende Moratorium verbietet es, Dokumente zu vernichten, die einen Bezug zu Rechtsextremismus haben.
Auch der Name Jan Böhmermann fiel im Laufe des Tages häufig im Ausschuss. Der Satiriker hatte mit seinem "ZDF Magazin Royale" und der Plattform "Frag den Staat" einen Abschlussbericht zu einer Prüfung von NSU-Akten des hessischen Verfassungsschutzes geleakt. Diesen Bericht hatte Rhein in seiner damaligen Funktion als Innenminister in Auftrag gegeben. Das Landesamt hatte daraufhin eigene Dokumente zum Rechtsextremismus auf mögliche Bezüge zum NSU untersucht.
Opposition kritisiert Rheins Aussagen
"Ich habe den Bericht aber in Folge dann nie zu Gesicht bekommen", sagte Rhein. 2014 kam es zu einem Wechsel an der Spitze des Innenministeriums: Neuer Chef wurde dort Peter Beuth, der das Amt auch heute noch innehalt; Rhein wurde hessischer Wissenschaftsminister. Nach eigenen Worten wurde Rhein der Abschlussbericht erst durch die ZDF-Veröffentlichung bekannt. Er sei "erstaunt" gewesen, als das Dokument plötzlich in aller Breite in der Öffentlichkeit gewesen sei, sagte er heute.
Um die Akten gibt es seit Jahren Streit. Sie waren zunächst für 120 Jahre als geheim eingestuft worden, später wurde die Zeit auf 30 Jahre verringert. Schließlich stellten "Frag den Staat" und "ZDF Magazin Royale" den auf das Jahr 2014 datierten Abschlussbericht ins Internet.
Die Opposition kritisierte Rheins Aussagen zum Zustand des hessischen Landesamts für Verfassungsschutz. "Die Feststellung, dass alles in Ordnung war, können wir auf gar keinen Fall teilen", sagte SPD-Fraktionschef Günter Rudolph nach der Vernehmung von Rhein. Während seiner Amtszeit seien mehrere Fehler unterlaufen, die die Sperrung der Akte verhindert hätten. Unter anderem sei Ernst auf einem Foto einer Sonnenwendfeier der rechten Szene nicht erkannt worden. Im Landesamt habe es an vielem gemangelt, etwa an Kapazitäten für eine nachrichtendienstliche Analyse oder ein professionelles Informationsmanagement. Rheins "Eigenlob" täusche nicht über strukturelle Mängel in dem Amt hinweg, führte Rudolph weiter aus.
Die Arbeit des Landesamts sei "desaströs" gewesen, ergänzte der innenpolitische Sprecher der Linksfraktion, Torsten Felstehausen. 2009 sei E. in einem internen Vermerk noch als "brandgefährlich" eingestuft worden, kurze Zeit später aber aus dem Blickfeld der Verfassungsschutzbehörde verschwunden. "Zur Erhellung der Vorgänge im Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) während seiner Amtszeit als Innenminister konnte Boris Rhein heute überraschend wenig beitragen", resümierte Felstehausen. Dem Verfassungsschutz sei vieles entgangen. "Viel zu viel, wenn er als Frühwarnsystem dienen soll."
Quelle: ntv.de, fzö/dpa/AFP