Keine Zusagen im Gepäck? Scholz besucht Irpin und beklagt "Brutalität"
16.06.2022, 14:40 Uhr
Bundeskanzler Scholz besucht gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten Draghi den Kiewer Vorort Irpin. Dort verurteilt er die sinnlose Gewalt des russischen Angriffskriegs. Ob er bei seinem Besuch der Ukraine konkrete Zusagen macht, ist jedoch zweifelhaft.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat das ukrainische Irpin besucht. Der SPD-Politiker traf am späten Vormittag in dem teils zerstörten Kiewer Vorort ein. Ähnlich wie im benachbarten Butscha wurden dort nach dem Rückzug der Russen Ende März knapp 300 tote Zivilisten gefunden, von denen etliche gefoltert und ermordet worden waren.
Scholz verurteilte in Irpin die "Brutalität" des russischen Angriffskriegs und sprach von sinnloser Gewalt. Es seien unschuldige Zivilisten getroffen und Häuser zerstört worden. Es sei eine ganze Stadt zerstört worden, in der es überhaupt keine militärischen Strukturen gegeben habe. "Das sagt sehr viel aus über die Brutalität des russischen Angriffskriegs, der einfach auf Zerstörung und Eroberung aus ist." Die Zerstörungen in Irpin seien ein "ganz wichtiges Mahnmal" dafür, dass etwas zu tun sei. Es sei ein furchtbarer Krieg, sagte der Kanzler. "Russland treibt ihn mit größter Brutalität ohne Rücksicht auf Menschenleben voran. Und das ist das, was auch zu Ende gehen muss." Scholz versicherte der Ukraine die internationale Solidarität.
Scholz wurde begleitet vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und dem rumänischen Staatschef Klaus Iohannis. Der Sondergesandte des ukrainischen Präsidenten Wolodomyr Selenskyj für eine EU-Beitrittsperspektive, Oleksij Tschernyschow, führte die vier Spitzenpolitiker in Irpin an Ruinen von Häusern vorbei, die bei russischem Beschuss beschädigt wurden. Scholz, Macron, Draghi und Iohannis wollen in der Ukraine ein Signal der Solidarität mit dem von Russland angegriffenen Land senden.
In Irpin lebten vor dem Krieg knapp 60.000 Einwohner. Die russischen Truppen konnten die Ortschaft nicht vollständig erobern, näherten sich aber der Stadtgrenze der Hauptstadt bis auf wenige Kilometer. Inzwischen ist in Irpin das normale Leben weitestgehend wieder aufgenommen worden. Die durch den russischen Angriff entstandenen Zerstörungen sind jedoch weiter unübersehbar.
Kurz nach Ankunft Luftalarm in Kiew
Scholz war am Morgen gemeinsam mit Macron und Draghi zu einem lange erwarteten Besuch in der ukrainischen Hauptstadt eingetroffen. Das EU-Trio war mit dem Nachtzug nach Kiew gereist. Kurz nach ihrer Ankunft war in Kiew Luftalarm ausgelöst worden. Nach etwa einer halben Stunde wurde dieser aber wieder aufgehoben. Auch in zahlreichen weiteren Landesteilen gab es Luftalarm.
In Regierungskreisen hieß es, Scholz werde in Kiew keine konkreten neuen Zusagen machen. Ob das EU-Trio der Ukraine eine Zusage zum Kandidatenstatus machen wird, gilt ebenfalls als unsicher. "Es muss ein Gleichgewicht gefunden werden zwischen den natürlichen Bestrebungen der Ukraine, der EU zu einem ganz besonderen Zeitpunkt beizutreten, und der Aufmerksamkeit für alle Länder, die bereits den Kandidatenstatus haben und in den Verhandlungskapiteln feststecken, sowie der Tatsache, dass wir die EU nicht destabilisieren oder spalten dürfen", hieß es in französischen Regierungskreisen.
Kiew kritisiert zögerliche Haltung von Bundeskanzler Scholz
Die ukrainische Regierung hatte die drei EU-Staaten zuvor dafür kritisiert, dass sie das Land nach dem russischen Angriff am 24. Februar nicht ausreichend unterstützt hätten. Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andreij Melnyk, sagte der "Rheinischen Post", Kiew erwarte in erster Linie, dass Scholz endlich grünes Licht für die erbetenen 88 "Leopard 1"-Kampfpanzer und 100 Marder-Schützenpanzer gebe, die der Konzern Rheinmetall sofort liefern könne.
Scholz war seit Wochen auch aus der Ampel-Koalition aufgefordert worden, ebenso wie zahlreiche andere EU-Regierungschefs nach Kiew zu reisen. Auf die Frage, warum der Besuch gerade jetzt stattfinde, antwortete ein Beamter des Elysée, man habe es für das Beste gehalten, ihn kurz vor einem EU-Gipfel in der nächsten Woche durchzuführen, auf dem die Bewerbung Kiews um den Beitritt zur 27-köpfigen Union erörtert werden soll. Die EU-Kommission will dazu am Freitag eine Empfehlung abgeben.
Scholz stand innenpolitisch unter erheblichem Druck, weil er auch aus der FDP und von den Grünen für einen zu zögerlichen Kurs kritisiert worden war. Scholz selbst hatte Kritik an mangelnden Waffenlieferungen mit dem Hinweis zurückgewiesen, dass Deutschland in Abstimmung mit westlichen Partnern Waffen bereitstelle. Deutschland und die Niederlande wollen etwa zwölf Panzerhaubitzen 2000 an die Ukraine liefern. Dazu sind in Deutschland ukrainische Soldaten ausgebildet worden. Zudem hat die Regierung etwa die Lieferung des Luftabwehrsystems IRIS-T zugesagt.
Quelle: ntv.de, ghö/dpa/rts