
Grünen-Vorsitzende im Barnimer Wald: Baerbock und Habeck.
(Foto: REUTERS)
Nie zuvor hat das Thema Klimaschutz eine so wichtige Rolle gespielt wie bei dieser Bundestagswahl. Leichtes Spiel für die Grünen also? Mitnichten, die Union scheint kaum noch einholbar. Schuld daran sind weder Medien noch unfaire Gegner, sondern das eigene Unvermögen.
"Nichts ist so mächtig, wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist", lautet ein schönes Bonmot, das - so nicht ganz zu Recht - dem französischen Literaten Victor Hugo zugeschrieben wird. Deutschland wird in den Wochen vor der Bundestagswahl mit Wucht von der Idee erfasst, die Klimakrise schleunigst in den Griff bekommen zu müssen: Die Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz macht ebenso tiefen Eindruck auf die Wählerinnen wie die Hitzewelle im Süden Europas.
Schon vor Ausbruch des Feuersturms am Mittelmeer befanden die Befragten der Forschungsgruppe Wahlen den Klimawandel als Thema genauso wichtig wie die Corona-Pandemie. Mit Ausnahme der AfD-Anhänger herrschte unter den Umfrageteilnehmern zudem weitgehend Einigkeit, dass der Klimawandel ein großes oder sehr großes Problem für Deutschland ist. Die Grünen werden sich am Abend des 26. September aller Voraussicht nach fragen müssen, wie sie einen derart auf dem Tablett servierten Wahlsieg aus der Hand geben konnten.
Eine gleichermaßen naheliegende wie simple Antwort könnte lauten, dass politische Gegner und bestimmte Medien seit Wochen die Spitzenkandidatin Annalena Baerbock und ihre Partei bei jeder sich bietenden Gelegenheit mit exzessiver Kritik überziehen. Zudem suchen der Hass und die Häme, die sich im Netz über sie ergießen, ihresgleichen. Auch weniger niveaulose Attacken basieren oft auf Verdrehungen und Unwahrheiten. Auffällig ist auch die Häufigkeit, mit der auf den Schlag- und Startseiten einiger Medien wahlweise von einer wohlstandsgefährdenden Öko-Diktatur oder einem deutschfeindlichen Multikulti-Wahn fabuliert wird. Ob da eine politische Kampagne am Werk ist oder schlichtes Quoten-Kalkül, sei dahingestellt. Klar ist: Keiner der drei Kanzlerkandidaten würde Deutschland in den Untergang führen.
Kein roter Teppich ins Kanzleramt
Aber haben es die anderen Kandidaten denn so viel leichter? Vize-Kanzler Olaf Scholz erfährt seit einem Jahr bestenfalls freundliches Desinteresse, hinzu kommen Spott oder - schlimmer noch - Mitleid für seine unrealistisch anmutenden Ambitionen, mit der SPD eine Regierung anführen zu wollen. Und was Social Media betrifft: Unionskandidat Armin Laschet hat binnen weniger Wochen für ein Leben ausgesorgt an pseudo-witzig verpackten Boshaftigkeiten und harscher Kritik im Internet. Mag der Boulevard den CDU-Chef weniger hart anpacken als die Grünen-Vorsitzende: Dass die Presse über ihn besonders freundlich berichten würde, entspricht gewiss nicht der Wahrnehmung des Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen.
Keinem der drei Kanzlerkandidaten wurde bislang ein roter Teppich in den Betonpalast am Spreebogen ausgerollt. Warum auch? Ein Kanzlerwahlkampf ist ein Stresstest, der in Form medialer Dauerkritik und permanenter öffentlicher Bewertung die Belastungen des Kanzler-Daseins vorwegnimmt und so die Entscheidungsfindung der Wählerinnen befördert. Und die Wahrheit lautet: In diesem Stresstest machen die Grünen seit dem Frühjahr keine gute Figur. Baerbocks Fehler im Umgang mit ihren Einkommensmeldepflichten beim Bundestag waren ebenso Anfängerniveau wie der offenkundig haarsträubende Entstehungsprozess ihres Buches. Die dünnhäutigen Reaktionen ("Rufmord!") der Partei auf die harte, aber legitime Kritik an Baerbocks Fehltritten waren alles andere als souverän. Nun auch noch der Saarland-Verband, der sich selbst ins Abseits gekegelt hat.
Lost in Brandenburg
Die Aufreger der vergangenen Tage waren zwar weit weniger schwerwiegend, sind aber dennoch exemplarisch dafür, wie die Partei ihre günstige Ausgangslage vor der Wahl herschenkt. Dass Baerbock als Brandenburger Politikerin vom nahegelegenen Oderbruch sprach, als sie sich in Wahrheit im Barnim befand, dürfte auch dem mutmaßlich schwelenden Konflikt mit ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck geschuldet sein. Der frühere Umweltminister von Schleswig-Holstein steckte während der Presse-begleiteten Moorwanderung tiefer im Nischenthema Feuchtgebiete, weshalb er gehaltvolle Anmerkungen beizusteuern wusste. Baerbock wollte Habeck wohl nicht nachstehen und lieferte einen undurchdachten Kommentar samt falscher Ortsangabe. Die 40-Jährige will nach den zuletzt so verunsichernden Wochen selbstbewusst wirken, hat aber offenkundig nicht die Stärke, auch einmal den Mann neben ihr glänzen zu lassen. Dabei zahlt auch Habecks Beliebtheit aufs Konto der Grünen ein.
Dass Habeck, warum auch immer, gegen Ende der Wanderung etwas verdrießlich dreinschaute, war obendrein gefundenes Fressen für jene, die vom angeblichen Ende der Harmonie an der Grünen-Spitze zu berichten wissen. Habeck will erkennbar die Frau, die ihm die Kanzlerkandidatur wegschnappte, mit ganzer Kraft unterstützen. Doch dafür muss er auch seine Mimik im Griff haben. Das Team Baerbock/Habeck, das angetreten war, einen neuen, weniger egomanen Politikstil zu etablieren, wirkt seit Baerbocks Nominierung zunehmend entfremdet voneinander.
Ein Tweet wie Bumerang
Der zweite Aufreger, der Spott auf Twitter über ein vom Berliner Bezirksverband Mitte gepostetes Foto, ist auf den ersten Blick ebenfalls eine Lappalie: Bei einer Wahlveranstaltung fanden Baerbock, die Grünen-Kandidatin für das Amt der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Bettina Jarasch, die Wahlkreiskandidatin für die Bundestagswahl, Hanna Steinmüller, und die Berliner Abgeordnete Silke Gebel für einen gemeinsamen Schnappschuss zusammen. "Während sich auf den Gruppenfotos der Union wieder alte Männer zusammendrängen...", kommentierte der Bezirksverband stolz und bissig. Dumm nur, dass das unbeschnittene Originalfoto auch eine Handvoll männlicher Regionalwahlkandidaten links und rechts von den Frauen zeigte. Sprich: Ausschließlich weiblich ist die Kandidatenliste der Grünen nun auch wieder nicht. Das ist eigentlich bekannt, zumal der veröffentlichte Zuschnitt die für die wichtigeren Posten kandidierenden Politikerinnen zeigt.
Wer aber wie die Grünen, getrieben von der existenziellen Klimarettungsmission und einem mitunter absoluten Anspruch auf Diskriminierungsfreiheit, stets mit erhobenem Zeigefinger daherkommt und sich auch gern über mangelnde Professionalität der anderen mokiert, wird selbst an mindestens genauso hohen Erwartungen gemessen. Das gilt im Kleinen, bei Twitter-Schummeleien und Ortsverwechslungen, genauso wie bei Baerbocks größeren Patzern oder dem Ausschluss der Saarland-Liste von der Wahl. Dass sich Wähler deshalb für eine Partei entscheiden, die das Thema weniger konsequent angehen, mögen die Grünen beklagen. Insbesondere CDU und FDP sind ja in Fragen des Klimaschutzes tatsächlich weitgehend blank. Doch um das zu vermitteln, dürfen nicht permanent sachliche, kommunikative und charakterliche Schnitzer von der inhaltlichen Debatte ablenken. Gelingt das nicht und die Partei läuft in sieben Wochen auf Platz zwei oder drei ins Ziel ein, lag es nicht an der Stärke des politischen Gegners oder an überzogener Kritik. Das haben sich die Grünen dann selbst zuzuschreiben.
Quelle: ntv.de