Der Kriegstag im Überblick Stoltenberg sieht Krieg in "kritischer Phase" - NATO-Chef deutet Kritik an Deutschland an
09.09.2022, 20:45 Uhr
Die Ukraine kann bei ihrer Gegenoffensive mehrere Ortschaften befreien.
(Foto: REUTERS)
Seit inzwischen 198 Tagen verteidigt sich die Ukraine gegen den russischen Angriff. Dabei zeichnet sich immer mehr ab, dass die Gegenoffensive spürbar voran kommt. Derweil stellt die EU weitere Milliarden zur Verfügung. Einmal mehr weist die IAEA auf die dramatische Lage am AKW Saporischschja hin.
Stoltenberg: Krieg in "kritischer Phase"
Mit der ukrainischen Gegenoffensive geht Russlands Angriffskrieg aus Sicht von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in eine "kritische Phase". Ukrainische Streitkräfte seien dank der Unterstützung aus NATO-Staaten zuletzt in der Lage gewesen, Moskaus Offensive im Donbass zu stoppen und Territorium zurückzuerobern, erklärte der Norweger mit US-Außenminister Antony Blinken. Die Solidarität des Westens dürfe nun trotz Energiekrise und steigender Lebenshaltungskosten nicht nachlassen. Auch nach Einschätzung von US-Verteidigungsminister Lloyd Austin macht die Ukraine bei ihrer laufenden Gegenoffensive Fortschritte. "Wir sehen jetzt Erfolge in Cherson, wir sehen einen gewissen Erfolg in Charkiw - und das ist sehr, sehr ermutigend", sagte der Ex-General.
Blinken: Ukraine muss in bestmöglicher Lage für Verhandlungen sein
Die USA wollen die Ukraine in ihrer Gegenoffensive gegen Russland in eine starke diplomatische Verhandlungsposition bringen. "Wir sehen in diesem Moment keine Anzeichen von Russland, dass es bereit ist, eine solche Diplomatie ernsthaft zu betreiben. Aber wenn dieser Zeitpunkt kommt, muss die Ukraine in der bestmöglichen Position sein", sagte er. Blinken lobte die ukrainische Offensive und Geländegewinne im Süden und Osten des Landes als "echte Fortschritte". Es sei noch zu früh zu sagen, wie sich die Lage entwickeln werde. Die Moral der ukrainischen Soldaten sei aber deutlich höher als die der russischen Streitkräfte.
Flucht vor der Ukraine - Besatzer evakuieren Orte im Osten
Angesichts einer laufenden ukrainischen Gegenoffensive evakuieren die russischen Besatzer eigenen Angaben zufolge weitere Orte im ostukrainischen Gebiet Charkiw. Zunächst sollen die Orte Isjum und Kupjansk geräumt werden, wie der Chef der von Russland eingesetzten Militärverwaltung, Witali Gantschew, der staatlichen Nachrichtenagentur Tass zufolge sagte. Nach mehr als einem halben Jahr Krieg sind die ukrainischen Truppen bei ihrer Gegenoffensive zuletzt im Osten des Landes tief in den Rücken der russischen Besatzungstruppen vorgedrungen. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Donnerstagabend die Rückeroberung der Kreisstadt Balaklija im Gebiet Charkiw bestätigt. Die Vorstöße zielen weiter auf die Stadt Kupjansk, über die mehrere Eisenbahn- und Straßenlinien führen. Die Kleinstadt gilt daher als strategisch wichtig für den Nachschub der russischen Truppen, die im Norden auf den Donbass zumarschieren. Auch im Gebiet Cherson im Süden gibt es ukrainische Gegenangriffe.
Stoltenberg deutet Kritik an deutschem Verhalten an
Zweifel weckte NATO-Generalsekretär Stoltenberg an deutschen Argumenten gegen die Lieferung großer Mengen Bundeswehr-Waffen an die Ukraine. Auf die Frage, ob Alliierte eher Fähigkeitsziele des Bündnisses erfüllen sollten, als der Ukraine noch mehr Ausrüstung zu liefern, machte er deutlich, dass er eine Niederlage der Ukraine für gefährlicher hält als unter Plan gefüllte Waffenlager von NATO-Staaten. "Der Preis, den wir zahlen, wird in Geld gemessen. Der Preis, den die Ukrainer zahlen, wird in Leben gemessen"», sagte Stoltenberg. Wenn die Ukraine aufhöre zu kämpfen, werde sie "als unabhängige Nation nicht mehr existieren", warnte er. Deshalb müsse man am bisherigen Kurs festhalten - "um der Ukraine und um unser selbst willen".
IAEA: Situation am AKW Saporischschja "untragbar"
Die Lage im umkämpften ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja wird laut internationalen Beobachtern vor Ort immer instabiler. "Die Situation ist untragbar, und sie wird immer prekärer", sagte Rafael Grossi, Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA). Die Anlage habe keine externe Stromversorgung mehr für die Kühlung von Reaktorkernen und Atommüll. Der Grund sei der Beschuss und die Zerstörung des Umspannwerkes in der nahen Stadt Enerhodar. Der ukrainische Kraftwerksbetreiber erwäge nun die Abschaltung des letzten der sechs Reaktorblöcke, der im großen Atomkraftwerk noch in Betrieb ist, sagte Grossi.
EU machen weitere Milliarden locker
Die EU-Staaten unterstützen die Ukraine mit weiteren fünf Milliarden Euro. Darauf verständigten sich die Finanzminister. Die zusätzlichen fünf Milliarden Euro gehören zu einer sogenannten Makrofinanzhilfe für die Ukraine im Umfang von neun Milliarden Euro, die Brüssel im Mai angekündigt hatte. Davon ist bisher lediglich eine Milliarde Euro ausbezahlt. Die neuen Mittel sollen "für den laufenden Betrieb des Staates und für die Sicherstellung des Betriebs wesentlicher Infrastrukturen wie Büros, Schulen und Krankenhäuser verwendet werden", wie der tschechische Finanzminister Zbynek Stanjura erklärte. Nach einer gemeinsamen Erklärung der Weltbank, der EU-Kommission und der Ukraine belaufen sich die bisher bekannten Wiederaufbaukosten auf 349 Milliarden Euro.
Putin und Erdogan wollen über Getreide-Abkommen reden
Nach seiner Kritik am Abkommen über den Export von ukrainischem Getreide will Russlands Präsident Wladimir Putin sich darüber Ende kommender Woche mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan austauschen. Die Export-Vereinbarung war im Juli unter türkischer Vermittlung zustande gekommen, nachdem Millionen Tonnen Getreide wegen des Krieges in ukrainischen Häfen blockiert waren. Erst vor wenigen Tagen drohte Putin nun indirekt damit, sie wieder platzen zu lassen. "Ein Gespräch von Putin und Erdogan ist möglich und notwendig und wird bereits vorbereitet", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Agentur Interfax zufolge mit Blick auf einen Gipfel in Usbekistan in Zentralasien in der kommenden Woche.
EU setzt Visa-Erleichterungen für Russen aus
Russische Bürger profitieren ab Montag nicht mehr von einer erleichterten Visa-Vergabe für Reisen nach Deutschland und andere Staaten des Schengen-Raums. Der Rat der EU-Staaten nahm am Freitag den Vorschlag der Europäischen Kommission an, das zwischen der EU und Russland geschlossene Abkommen zur Erleichterung der Visa-Vergabe komplett auszusetzen. Der Schritt soll dafür sorgen, dass die Zahl der neuen Visa für Russen signifikant sinkt. Schutzbedürftige Menschen sollen aber weiter ein Visum bekommen können.
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Quelle: ntv.de, jwu/rts/AFP/dpa