Politik

Opfer russischer Kriegsverbrechen"Viele Ukrainerinnen kehren in ihr Haus an der Front zurück"

15.11.2025, 13:58 Uhr verstlLea Verstl
438468523
"Es gibt Menschen, die sich zur Rückkehr entschließen, weil sie eine unglaublich starke Bindung zu ihren Wurzeln haben", sagt Ivanova. (Foto: picture alliance/dpa/SOPA Images via ZUMA Press Wire)

Mitten im Krieg will Tetiana Ivanova Frauen in der Ukraine ein Gefühl von Sicherheit geben. Ivanova leitet ein Frauenhaus nahe Kiew für Vertriebene, die Opfer von Kriegsverbrechen wurden. Trotz des erlebten Grauens sehnten sich viele nach ihrer Heimat, sagt sie.

ntv.de: Sie leiten für die Nichtregierungsorganisation Eleos eine Unterkunft für Frauen, die aus den besetzten Gebieten geflohen sind. Wie kam es zu dem Projekt?

Tetiana Ivanova: Wir haben das Projekt im Jahr 2022 gestartet, als Reaktion auf massenhafte Berichte über die Kriegsverbrechen und die damit verbundene Gewalt. Es waren schockierende Informationen für uns. Wir hatten in unserer Nichtregierungsorganisation Eleos bereits Erfahrung in der Arbeit mit Überlebenden von Verbrechen, insbesondere von häuslicher und geschlechtsspezifischer Gewalt. Wir hatten also Ressourcen, um das Projekt zu starten. Die Betroffenen in den besetzten Gebieten waren nicht nur von der Gewalt betroffen, sie hatten auch alles verloren, einschließlich ihrer Häuser. Also begannen wir, Unterkünfte zu bauen, in denen wir eine umfassende Unterstützung anbieten können.

IMG_4311
Tetiana Ivanova ist Leiterin der Abteilung zur Bekämpfung von Gewalt bei der gemeinnützigen Organisation Eleos-Ukraine in Kiew.

Wie gelingt Ihnen das?

Unsere Rehabilitationsunterkunft befindet sich in der Oblast Iwano-Frankiwsk in den Bergen. Es ist eine ruhige Gegend. Dort schrillen keine Alarmglocken und es gibt keine Luftangriffe. Frauen mit Kindern haben die Möglichkeit, sich dort zu erholen. Sie alle bekommen psychologische Hilfe, Sozialhilfe und medizinische Versorgung von guten Privatkliniken. Alle ihre Rechnungen sind bezahlt. Für die Rehabilitation verwenden wir das Modell des Friedensnobelpreisträgers Denis Mukwege, das er für Flüchtlinge im Kongo entwickelt hat. Ein Schwerpunkt ist die wirtschaftliche Weiterentwicklung der Frauen. Das unterscheidet uns vom Kongo: Wir haben in Mitteleuropa viel mehr Möglichkeiten, um Frauen weiterzubilden und ihnen finanziell zu helfen.

Die Bildung und die berufliche Perspektive sind also der Schlüssel, um wieder in den Alltag zu finden?

Wichtig ist das auf jeden Fall. Auch hier haben wir ein breites Angebot. Wir bieten Schulungen und Seminare für Lebensläufe und Vorstellungsgespräche an, vermitteln zudem Beschäftigungsmöglichkeiten. Als Organisation führen wir auch Projekte durch, in denen wir weibliche Binnenflüchtlinge unterrichten und sogar Kleinstkredite vergeben. Aber eigentlich zielen wir mit unserem Projekt noch höher: Wir wollen die Sicherheit der Frauen gewährleisten. Nach der Rehabilitation gibt es ein Problem: Viele Ukrainerinnen kehren in ihr Haus an der Front zurück, obwohl es dort gefährlich ist. Die Orte stehen unter Beschuss und es gibt dort keine Arbeitsplätze. Ein normales Leben ist eigentlich unmöglich. Deshalb wollen wir Frauen motivieren, sich in ein neues, sicheres Umfeld zu integrieren, um eine neue Heimat zu finden. In einigen Fällen klappt das. Nur dann sind die Frauen langfristig sicher.

Gibt es Erfolgsgeschichten von Frauen, die Sie besonders beeindrucken?

Es gibt viele Erfolgsgeschichten. Wir haben Kapazitäten, um 100 Frauen pro Jahr in unserer Unterkunft zu helfen. 30 Menschen können zusammen mit ihren Kindern gleichzeitig hier wohnen. Momentan beherbergen wir 16 Klientinnen und ihre Kinder. Was mich besonders beeindruckte: Vor etwa einem Jahr nahmen wir eine Frau auf, die aus der Region Charkiw geflohen war. Sie hatte unter der russischen Besatzung Schreckliches erlebt, kam mit ihren beiden Kindern und war schwanger. Nach der Geburt des dritten Kindes blieb die Familie zunächst in der Unterkunft. Aber die Frau fand ziemlich schnell die Stärke, sich nahe Kiew ein neues Leben aufzubauen. Sie war irgendwann sogar in der Lage, von ihrem Ersparten ein kleines Haus in Tscherkasij zu kaufen. Das ist etwa 200 Kilometer von Kiew entfernt.

Es gibt viele Berichte über die Brutalität der russischen Soldaten gegen Frauen. Erzählen Ihnen die Opfer davon, wenn sie zu Ihnen kommen?

Es ist nicht unser Ziel, dass Frauen, die aufgenommen werden, ihre Geschichten erzählen. Solche Erinnerungen können traumatisch sein, und wir wollen sie nicht retraumatisieren. Höchstwahrscheinlich erzählen sie ihre Geschichten den Psychologen, die wir bereitstellen. Das ist jedoch streng vertraulich. Und falls ich als Leiterin der Unterkunft etwas erfahre, behandele ich diese Informationen vertraulich.

Wie überzeugen Sie die Frauen davon, nicht in ihre Häuser an der Front zurückzukehren?

Wir überzeugen sie nicht mit Worten. Wir zeigen ihnen im Alltag Beispiele, wie es anders gehen kann. Wir geben ihnen die Erfahrung, an einem Ort zu bleiben, der sicher ist. Wichtig ist auch, dass die Kinder glücklich sind. Viele Frauen haben sich zum Bleiben entschlossen, weil ihre Kinder sich hier anders verhalten und mehr lächeln. Es gibt Menschen, die sich zur Rückkehr entschließen, weil sie eine unglaublich starke Bindung zu ihren Wurzeln haben. Es ist gefährlich, aber jede Frau hat die freie Wahl. Alles, was wir tun können, ist, für sie an diesem gemütlichen Ort ein sicheres Erlebnis zu schaffen - und zu zeigen, dass das auch während des Krieges möglich ist.

Wie sehen Sie die Rolle der Frauen in diesem Krieg?

Das ist eine tiefgründige Frage. Wenn ich darüber spreche, werde ich emotional. Die Rolle einer Frau in diesem russisch-ukrainischen Krieg kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Frauen dienen in der Armee als Soldatinnen, Sanitäterinnen und Ärztinnen. Sie sorgen dafür, dass die Zivilgesellschaft erhalten bleibt, indem sie Aufgaben der Männer übernehmen, die an der Front kämpfen. Sie kümmern sich um ihre Kinder und den Haushalt. Sie bilden sich weiter und machen Universitätsabschlüsse. Sie erreichen Führungspositionen in der freien Wirtschaft. Wenn es um Frauenrechte geht, ist die Ukraine ein fortschrittliches Land. Frauen haben hier viele Chancen, die sie wegen ihrer Ambitionen auch ergreifen. Ich bin unglaublich stolz auf unsere Frauen.

Mit Tetiana Ivanova sprach Lea Verstl

Quelle: ntv.de

RusslandKriegsverbrechenFrauenAngriff auf die UkraineKriege und KonflikteUkraine-KonfliktFrauenrechteUkraineKriegsverbrecher