Berlin Tag & Macht Wählerfrust meets Wutpartei: Eine Diagnose des politischen Stillstands


Muss Bayerischer Leberkäse jetzt auch verboten werden? Denn Käse ist das nicht, und Leber ist in der Regel ebenfalls nicht drin.
(Foto: picture alliance / CHROMORANGE)
Politik im Selbstsabotage-Modus, eine Regierung, die den Kontakt zur Realität verloren hat: Warum Symbolpolitik Rechtspopulisten nicht auf Distanz hält und wie die AfD profitiert, wenn Angst und politischer Stillstand Deutschland in den Rechtsruck treiben.
Einer der wirkmächtigsten Hebel des Rechtspopulismus ist es, potenziellen Wählern unablässig einzureden, "die da oben" würden uns alle für dumm verkaufen. Gelegentlich tauchen sogar noch exotischere Argumentationsattrappen auf, mit denen der Volkszorn auf Altparteien entfacht werden soll. Durch verschwörungstheoretische Kleinode aus dem Aluhut-Handbuch (mein Favorit: "Unsere Politiker sind längst durch Reptiloide in Menschengestalt ersetzt worden") lassen sich allerdings kaum noch signifikant Wechselwähler an die Wahlurne treiben.
Auch nicht im heutigen Zeitalter der postfaktischen Meinungswahrheit, in dem etwas zu wissen und etwas zu glauben inzwischen zwei gleichwertige Diskursparameter geworden sind. Wer also von ganz rechts außen in die Bundespolitik grätschen will, der greift zur guten alten "Wir werden von den Politikern verarscht"-Legende. Vor allem, wenn er außer Jana aus Kassel und ein paar Evidenzverweigerern, die ihre Keller aus Corona-Zeiten noch mit Desinfektionsmitteln vollgestellt haben, noch ein paar weitere Zielgruppen mobilisieren möchte.
Das Märchen von den Volksverrätern - und warum es wieder wirkt
In blühenden Zeiten des Aufschwungs ist es kaum erfolgversprechend, auf die moralische Untauglichkeit der Spitzenpolitiker zu verweisen, um dadurch ein Zuspruchs-Momentum für die eigene Agenda zu kreieren. Befindet sich die Gesellschaft allerdings in einer Besorgnis-Hausse, verfängt das Märchen über volksfeindlich eingestellte politische Führungskräfte schon eher. Das hat die Geschichte relativ eindeutig dokumentiert.
Nun könnte man einwenden: Wer sich durch ein zartrussisch angehauchtes Vordenker-Kollektiv mit der Problemlösungskompetenz einer Alice Weidel, eines Tino Chrupalla, einer Beatrix von Storch oder eines Alexander Gauland spürbare Verbesserungen in der deutschen Konjunkturlandschaft verspricht, der interessiert sich für historischen Kontext oder komplexe Zusammenhänge vermutlich noch weniger als die "Yalla, Yalla, Intifada!" brüllenden Nahostexperten auf den Straßen und in den Unis von Berlin.
Die Selbstblockade der etablierten Parteien
Womit wir bei einem nicht zu unterschätzenden Dilemma wären. Jeder, der noch beschwerdefrei und ohne KI-Unterstützung bis drei zählen kann, weiß: Die AfD ist an tatsächlichen Verbesserungen für unser Land in etwa so interessiert wie Jens Spahn an der lückenlosen Aufklärung der Maskenaffäre. Warum also rast das mit dem Verfassungsschutz-Siegel "Gesichert rechtsextremistisch" ausgezeichnete Politik-Simulations-Startup AfD dennoch mit Vollgas an allen herkömmlichen Parteien des demokratischen Spektrums vorbei direkt auf die 30 Prozent Alleinmehrheit zu? Stehen tatsächlich ein Viertel bis ein Drittel der deutschen Bevölkerung nicht mehr auf demokratischem Boden, Tendenz steigend? Nur Protestwähler oder gar ausschließlich Rechtsradikale können den Aufschwung der parteigewordenen Kreml-Filiale auf dem Demoskopie-Schlachtfeld wohl nicht alleinverantwortlich initiiert haben.
Kaum ist dieser Gedanke ausformuliert, drängt sich ein schlimmer Verdacht auf: Könnten womöglich die etablierten Parteien - konkret: ihr oftmals mit bloßem Auge nicht erkennbares Strategieprofil - tatsächlich der Grund dafür sein, dass eine von Rassismus, Sexismus und völkisch-nationalen Tendenzen dominierte Partei der flächendeckenden Substanzlosigkeit aktuell mehr Umfragezuspruch erhält als Grüne und SPD zusammen?
Vertrauensverlust als Brandbeschleuniger des Populismus
Begeben wir uns also auf Spurensuche im Kommunikationsmoloch der Regierungskoalition. Welche Entscheidungen, Diskussionen oder Personalien könnten derartig vertrauensvernichtende Verhaltens-Effekte beim wahlberechtigten Bürgertum hervorrufen, dass eine dunkle, zweifelsfrei grauenvolle Zukunfts-Drohkulisse buchstäblich immer realitätsnäher wird? Die nämlich, dass die Humanitätsverweigerer der AfD am Ende wirklich der sogenannte lachende Dritte werden könnten.
Wie grotesk wäre das? Ein Land, das sich nach Stabilität sehnt, ernennt die AfD zum Lösungsbeauftragten. Ausgerechnet die Partei, die den Reichstag nach ihrer bundesweiten Machtübernahme unverzüglich in eine Art "Dschungelcamp unter dem Bundesadler" verwandeln würde. Und dann würden nicht mal mehr Sonja Zietlow und Jan Köppen lachen.
Bemühungen, dieses Szenario um jeden Preis zu verhindern, lassen sich bei den Koalitionsparteien nicht entdecken. Regelmäßig verstrickt man sich auf der Regierungsbank in interne Grabenkämpfe, Zuständigkeits-Gerangel und Kompetenz-Kollisionen. Allein in der vergangenen Woche gab es im Intrigantenstadl der volkstümlichen Führungslosigkeit zahllose Paradebeispiele für völlig unnötige Koalitions-Showdowns. Machtspiele, die beim von Migrationskontroversen, Kinderarmut, Jobunsicherheit, Altersvorsorge, KI-Revolution, Rentendelta und demografischem Wandel ohnehin bereits komplett durchverängstigten Wahlvolk die Tür zum Rechtspopulismus jedes Mal noch weiter aufstoßen.
Zwischen Angst und Apathie
Zum Trigger-Höhepunkt im pseudo-woken "Wenn ihr keine anderen Probleme habt"-Roulette wurde vor allem der Beschluss, vegetarische Fleisch-Ersatzprodukte dürften künftig nicht mehr Burger, Schnitzel oder Wurst heißen. Ziel dieser weltpolitisch äußerst dringlichen Regulierungsfarce, die das EU-Parlament diese Woche auch mit den Stimmen der CDU/CSU verabschiedete: verhindern, dass der von unseren Politikern offenbar für hochgradig intellektuell unterversorgt gehaltene Durchschnittseuropäer im Supermarkt nicht versehentlich Soja-Geschnetzeltes statt Gammelfleisch-Gulasch erwirbt und dann unverschuldet an Fleischmangel verstirbt.
Nun bin ich keine Expertin, aber mein Gefühl sagt mir, dass es aktuell ausreichend akute Probleme gibt, um eine ganze Politiker-Generation für den Rest des Jahrtausends mit Lösungsfindungsaufgaben zu beschäftigen. Die Frage, ob ein aus Erbsenprotein, Tofu oder Hülsenfrüchten bestehendes Burger-Patty weiterhin Burger-Patty heißen darf, oder in "Veganer Bratling" umbenannt werden muss, rangiert dabei nicht unter den Top 1000.
Unionsphänomen Symbolpolitik
Für eine neutrale Beobachterin wirkt es äußerst faszinierend, wie die Union in ihrem Wähler-Rückgewinnungs-Konzept offenbar davon ausgeht, es gäbe auch nur einen einzigen AfD-Wähler, der zu Hause vor dem Fernseher sitzt und seiner Frau euphorisch zuruft: "Siehste, Gertrud! Endlich sind die wieder vernünftig! Die haben vegane Bratwurst verboten! Die muss jetzt längliches Gemüsegrillgut heißen! Was für ein Triumph über den Genderwahn! Ich wähle ab jetzt nicht mehr AfD, sondern wieder CDU!"
Neben einer Anti-Woke-Strategie, die vermutlich nicht dazu führen wird, die AfD endlich zu halbieren, wie es uns der heutige Kanzler einst versprochen hatte, gibt es weitere Unwägbarkeiten. Wenn man Nahrungsmittel nicht mehr danach benennen darf, wie sie aussehen oder wie sie schmecken, weil im Namen nichts genannt werden darf, was im Produkt gar nicht enthalten ist, wie verfährt man dann künftig mit Delikatessen wie Hundekuchen, Hochzeitssuppe, Schweineohren, Fleischsalat, Käsekuchen, Bienenstich, Scheuermilch, Kinderwurst, Jägerschnitzel, Fleischpflanzerl, Bärchenwurst, Maultaschen, Gummibärchen, Baumkuchen oder Baby-Öl?
Eine Antwort darauf steht noch aus. Wie man durch diese spektakuläre Irritationsbremse die AfD auf ihrem unaufhaltsamen Protestwähler-Rekrutierungsfeldzug Richtung 30 Prozent abfangen möchte, wird wohl das Geheimnis von Deutschlands einzigem aus Steuergeldern alimentierten Foodblogger bleiben: Markus Söder. Dem ist vor Freude über dieses Jahrhundertgesetz gegen die linksgrünversiffte Ernährungsdiktatur beinahe sein Leberkäse aus dem Mundwinkel gefallen. Guten Appetit!
Quelle: ntv.de