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Hamas überrumpelt Truppen Warum Israels Verteidigung versagte

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Israelische Militärfahrzeuge in der Nähe der Stadt Sderot nahe dem Gazastreifen.

Israelische Militärfahrzeuge in der Nähe der Stadt Sderot nahe dem Gazastreifen.

(Foto: dpa)

Es ist die blutigste Attacke seit der Gründung des Staates Israel: Bei einem Überraschungsangriff können Hamas-Kämpfer die gesicherte Grenze nach Israel überqueren und ein Massaker anrichten. Wieso konnte Israels Armee nicht rechtzeitig auf die Invasion reagieren?

Israel steht nach dem brutalen Überraschungsangriff der Hamas unter Schock. Die hohe Zahl der Opfer in kurzer Zeit macht ihn zur blutigsten Attacke seit Gründung des Staates Israel. Dessen Bewohner sahen sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Angriffen von außen und innen ausgesetzt. Bei der Abwehr halfen die in der Vergangenheit stets gut informierten israelischen Geheimdienste sowie eine Armee, die zu den modernsten und schlagkräftigsten der Welt zählt.

Doch was sich am Samstag am jüdischen Feiertag Simchat Tora (Freude der Tora) abspielte, passt nicht in dieses Bild: Einige Hundert Hamas-Kämpfer konnten unbehelligt den Grenzzaun zum Gazastreifen an fast 30 Stellen durchbrechen. Anschließend gelang es ihnen, die Kontrolle über das Hauptquartier der Gaza-Division der israelischen Armee, weiteren Stützpunkten der Streitkräfte sowie den Erez-Grenzübergang zu übernehmen. Außerdem richteten sie ein Blutbad in mehreren angrenzenden Ortschaften an und verschleppten mehr als hundert Geiseln nach Gaza.

Gründe für das Versagen

Wie konnte es so weit kommen? In einer Analyse der israelischen Tageszeitung "Haaretz" werden sechs Gründe für das Versagen der israelischen Verteidigung genannt:

  1. Fehlende geheimdienstliche Warnung: Die israelischen Geheimdienste hatten demnach keine Informationen über die geplante Invasion der Hamas. Zudem waren wegen der jüngsten Spannungen im Westjordanland Truppen aus dem nun betroffenen Sektor nahe Gaza ins Westjordanland verlegt worden.
  2. Späte Erkenntnis des Ausmaßes: Die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) erkannten nach Einschätzung der Zeitung "Haaretz" erst spät das gesamte Ausmaß des Angriffs. Entführungen von israelischen Soldaten und Zivilisten wurden erst bemerkt, als Bilder und Videos aus dem Gazastreifen in den sozialen Medien auftauchten.
  3. Nicht genug Truppen vor Ort: Das Verteidigungssystem im Süden Israels konnte den Angriff nicht abwehren, da nicht genügend Truppen in dem betroffenen Gebiet verfügbar waren. Anwohner, die um Hilfe riefen, erhielten keine Antwort, und in vielen Fällen war niemand da, der helfen konnte.
  4. Fehlerhafte Vorbereitung des Truppentransports: Obwohl die israelische Armee nach dem Angriff Tausende von regulären und Reservekräften einberief, war der Truppentransport in Bussen laut "Haaretz" nicht ausreichend organisiert worden und geriet ins Stocken.
  5. Lange Wartezeiten an Sammelpunkten: Selbst nach Ankunft an den Sammelpunkten dauerte es oft mehrere Stunden, bis die Soldaten in den Einsatz geschickt wurden. An vielen Stellen des Grenzgebiets organisierten sich Truppen, die nicht zur selben Einheit gehörten, vor Ort als Ad-hoc-Truppe unter einem ihnen unbekannten Kommandeur, berichtet die israelische Zeitung.
  6. Fehleinschätzung der Hamas-Absichten: Trotz der Zusammenstöße entlang der Grenze in den vergangenen Wochen glaubten hochrangige Vertreter der israelischen Armee und des Verteidigungsministeriums nicht an eine Kriegsabsicht der Hamas. Der nationale Sicherheitsberater Tzachi Hanegbi äußerte sogar kurz vor dem Angriff Zuversicht, dass die Hamas "sehr, sehr zurückhaltend" sei - was sich als fatale Fehleinschätzung herausstellte.

Die Probleme der israelischen Verteidigung und die langsame Reaktion schlagen sich in einer hohen Opferzahl unter Israelis nieder. Noch immer rätseln Experten, wie den als besonders gut informierten israelischen Geheimdiensten die wahrscheinlich über einen längeren Zeitraum geplante Aktion der Hamas entgehen konnte.

Politische Unruhen in Israel ein Faktor?

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"Ich bin wirklich erstaunt, dass etwas in dieser Größenordnung passieren konnte und die Israelis keine Ahnung hatten, dass es passieren würde", sagte Sicherheitsexperte Colin Clarke vom Soufan Center, einer gemeinnützigen Organisation, die sich mit globalen Sicherheitsfragen befasst, dem US-Sender NBC. "Sie haben seit Jahren Quellen innerhalb dieser palästinensischen Gruppen."

Allerdings macht Clarke noch auf einen möglichen weiteren Faktor für das Versagen von Israels Verteidigung aufmerksam: ob die jüngsten innenpolitischen Unruhen in Israel möglicherweise eine Rolle bei dem offensichtlichen Versagen der Geheimdienste spielten. Für Unruhe und Massenproteste in den vergangenen Monaten hatten die Versuche der Regierung unter Benjamin Netanjahu und seiner rechten Koalitionspartner geführt, das Oberste Gericht des Landes zu schwächen.

Quelle: ntv.de, kst

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