Wirrwarr vor MH17-Abschuss Warum warnte Berlin die Fluglinien nicht?
27.04.2015, 18:33 Uhr
Beim Absturz von Flug MH17 verloren 298 Menschen ihr Leben.
(Foto: picture alliance / dpa)
Schon vor dem Absturz von Flug MH17 wusste die Bundesregierung von Gefahren im Luftraum über der Ostukraine. Mit der Bewertung der Lage war Berlin aber offensichtlich überfordert. Denn das Auswärtige Amt fragte schlicht nicht nach.
Am 17. Juli 2014 fliegen drei Maschinen der Lufthansa über die Ostukraine. Die letzte gegen 13 Uhr. Nur 20 Minuten später stürzt Flug MH17 ab - vermutlich, weil er von einer Rakete getroffen wurde. Das Ziel hätte auch eine deutsche Maschine sein können. Obwohl die Bundesregierung über klare Gefahrenhinweise verfügte, warnte sie laut einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung", die zusammen mit WDR und ARD recherchiert hat, deutsche Airlines nicht.
Wie funktionieren die Warnsysteme? Welche Regionen sind derzeit für den Flugverkehr gesperrt? Und wie kann es sein, dass trotz Warnungen schon vor dem Absturz von MH17 andere zivile Maschinen über die Ostukraine geflogen waren?
Das Warnsystem für die zivile Luftfahrt ist kompliziert: Jeder Nationalstaat ist dazu verpflichtet zu melden, wenn es Gefahren im eigenen Luftraum gibt. Ist das der Fall, informieren die hiesigen Behörden normalerweise die Außenministerien betroffener Länder. Im Falle Deutschlands leitet das Auswärtige Amt die Warnung an das Verkehrsministerium weiter. Das wiederum sendet ein warnendes "Kommunikat" an alle Airlines.
Von solchen Warnungen kann es viele geben. "Die Gefahreneinschätzung verändert sich mitunter täglich, manchmal gar stündlich", erklärt ein Sprecher der Lufthansa gegenüber n-tv.de. "Kommt es zu einer neuen Bewertung, reagieren wir unmittelbar und entscheiden sofort, ob wir weiterhin Flugzeuge über diese Region fliegen lassen."
Derzeit warnt das Bundesverkehrsministerium vor Flügen über drei Regionen:
- Jemen: Dort bekämpfen sich schiitische Huthi-Rebellen, regierungstreue sunnitische Kräfte und Truppen Saudi Arabiens. Es besteht ein Verbot für den gesamten Luftraum.
- Libyen: In dem nordafrikanischen Land ringen zwei Regierungen um die Macht. Es gibt diverse Stammeskonflikte, und der Islamische Staat (IS) beherrscht große Teile des Landes. Auch in Libyen besteht ein Verbot für den gesamten Luftraum.
- Somalia: In dem Land am Horn von Afrika herrscht Bürgerkrieg. Radikale Islamisten kämpfen dort gegen Regierungstruppen. Das Bundesverkehrsministerium verbietet Starts und Landungen am Aden Adde International Airport in der Hauptstadt Mogadischu.
In all diesen Ländern besteht nach Angaben des Verkehrsministeriums die Gefahr, dass zivile Flugzeuge unter Beschuss geraten könnten. Ein Verbot von Flügen zum Airport Erbil im Irak, wo der IS gegen Regierungstruppen kämpft, hob die Bundesregierung kürzlich auf.
Auf Warnungen Berlins können sich Airlines nicht verlassen
Unabhängig von den Warnungen, die über nationale Ministerien an ausländische Länder geschickt werden, können Staaten, die für die Sicherheit ihres Luftraums nicht garantieren können, diesen auch selbst sperren. Dabei hilft das System "Notice to Airmen" (Notam). Das betroffene Land kann damit auf elektronischem Wege alle Airlines ohne den Umweg über Ministerien erreichen. Die Ukraine etwa hat nach dem Absturz von MH17 für Teile des Landes solch eine Sperrung veranlasst.
Fluggesellschaften lassen zudem zusätzliche Gefahreneinschätzungen erstellen und entscheiden dementsprechend. So haben einige deutsche Airlines basierend auf eigenen Risikoanalysen schon vor dem Abschuss von MH17 auf Flüge über die Ostukraine verzichtet.
Eine allgemeingültige Liste, welche Flughäfen angesteuert werden, kann es aufgrund all dieser Variablen nicht geben. Im Falle der Lufthansa, der größten deutschen Fluggesellschaft gilt: Sie fliegt derzeit weder Jemen noch Libyen, Syrien oder Südsudan an. Auch große Teile des Iraks und der Ukraine meidet sie.
Die Fluggesellschaften verlassen sich also nicht nur auf die Warnungen der Bundesregierung, sondern auf eine komplexe Fülle von Informationen. Andererseits kommen sie ohne diese offiziellen Warnungen auch nicht aus. "Einem Unternehmen ist es überhaupt nicht möglich, an alle relevanten Informationen zu gelangen", sagt der Lufthansa-Sprecher. Warum, das liegt nahe. Staaten wie Nordkorea kapseln sich im höchsten Maße von der Außenwelt ab. Wichtige Hinweise zum Beispiel auf die Existenz und den Standort von Flugabwehrraketen, die die Reisehöhe von zivilen Maschinen erreichen können, lassen sich nur durch geheimdienstliche Mittel sammeln.
Das Auswärtige Amt ist keine Luftsicherheitsbehörde
Im Fall der nicht erfolgten Warnung vor Flügen über der Ostukraine lief offensichtlich vieles falsch. Zunächst sperrte Kiew den eigenen Luftraum trotz Hinweisen auf Gefahren nicht komplett, sondern nur bis zu einer bestimmten Höhe. In Deutschland schätzte man die Lage wiederum falsch ein oder wollte sie falsch einschätzen.
Nur zwei Tage vor dem Abschuss von MH17 erfuhr das Auswärtige Amt laut den Recherchen von "Süddeutsche Zeitung", ARD und WDR über den deutschen Botschafter in der Ukraine von jenen Gefahrenhinweisen. In internen Berichten vom 15. Juli 2014 heißt es demnach, die "Lage in der Ostukraine" sei "sehr besorgniserregend". Als Grund wird dafür der Abschuss einer Antonow-Militärmaschine in Höhe von mehr als 6000 Metern am Vortag angeführt. Das, so heißt es, stelle "eine neue Qualität" dar.
Die "neue Qualität" besteht darin, dass ein Abschuss einer Maschine in mehr als 6000 Metern Höhe erahnen lässt, dass auch Ziele in noch größerer Höhe getroffen werden können. Denn für derartige Distanzen sind bestimmte Waffensysteme nötig. Derzeit gilt es als wahrscheinlich, dass MH17 von einem Buk-Luftabwehrsystem abgeschossen wurde - vermutlich von den Separatisten in der Ostukraine.
Warum aber informierten die deutschen Ministerien die Airlines nicht über diese "neue Qualität"? Von einem Sprecher des Auswärtigen Amtes heißt es: Die Bundesregierung habe deutschen Fluggesellschaften keine Gefahrenhinweise vorenthalten. Die Ukraine sperrte nach Angaben des Auswärtigen Amtes nach dem Abschuss der Antonow den Luftraum bis zu einer Höhe von rund 9750 Metern. Diese Entscheidung sei auf den üblichen Kanälen verbreitet worden. Aus damaliger Sicht, so der Sprecher des Auswärtigen Amtes, habe es keinen Anlass gegeben, die Entscheidung der ukrainischen Behörden anzuzweifeln. Ob das stimmt, ist allerdings fraglich.
"Ukraine hätte Geld verloren"
Laut einem Zwischenbericht des Dutch Safety Board zu den Absturzursachen von MH17 wurde das Flugzeug in rund 10.000 Metern Höhe getroffen und zerbrach noch in der Luft. Ohnehin spielt sich der Großteil des zivilen Luftverkehrs in Höhen jenseits dieser Marke ab. Und laut Militärexperten ist klar: Waffensysteme, die Ziele in mehr als 6000 Metern Höhe treffen können, können auch noch deutlich weiter feuern.
Laut einem Anwalt der Hinterbliebenen der Opfer von Flug MH17 spielten für die Ukraine finanzielle Gründe eine Rolle, den Luftraum nicht komplett zu sperren. Die ARD zitiert ihn mit den Worten: "Natürlich sind die Überflüge gebührenpflichtig. Hier hätte die Ukraine Geld verloren." Das Auswärtige Amt hätte das erkennen und wissen müssen, dass eine Gefahr für den zivilen Luftverkehr besteht.
Als ein Sprecher des Ministeriums sich allerdings erstmals zu den Vorwürfen äußert, fallen Sätze wie: "Das Auswärtige Amt ist auch keine Luftsicherheitsbehörde." Das Auswärtige Amt hielt es offenbar trotzdem nicht für nötig, das Bundesverkehrsministerium zu Rate zu ziehen. Die höchste Institution der Bundesrepublik für die Luftsicherheit wurde eigenen Angaben zufolge nicht über eine verschärfte Sicherheitslage in der Ukraine informiert.
Quelle: ntv.de