
Roman Abramowitsch am vergangenen Dienstag bei den Friedensverhandlungen in Istanbul.
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Es ist ein überraschendes Bild. Einen Tag nachdem Berichte über eine angebliche Vergiftung Abramowitschs publik werden, sitzt er bei den Friedensverhandlungen in Istanbul. Bereits seit Kriegsbeginn soll er zwischen Moskau und Kiew hin und her reisen.
Die US-Sanktionen nach dem Überfall auf die Ukraine treffen Hunderte russische Staatsbürger direkt. Auf den Listen sind auch die Namen von Kremlchef Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow zu finden. Eine Person fehlt: Roman Abramowitsch. Wie das "Wall Street Journal" berichtete, soll sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seinem US-Kollegen Joe Biden persönlich dafür eingesetzt haben, dass gegen den russischen Oligarchen vorerst keine Maßnahmen verhängt wurden.
Es sind solche Berichte, die Abramowitsch zu einer der vielleicht rätselhaftesten Figuren der vergangenen Wochen machen. Sein Name taucht immer wieder auf. Aber es ist nie wirklich klar, was seine Rolle ist. Als die ukrainische und die russische Delegation unter der Woche im türkischen Istanbul über Frieden verhandelten, saß auch der 55-Jährige mit ihnen im Raum. Offiziell gehörte Abramowitsch keiner der beiden Seiten an, er saß auch nicht mit am Verhandlungstisch.
Dennoch hat er einen Bezug zu beiden Kriegsparteien. Seit Wochen soll er zwischen Kiew, Moskau und Istanbul hin und her reisen. Medienberichten zufolge hat er auch Altkanzler Gerhard Schröder getroffen. Von russischer Seite heißt es, Abramowitsch sei eingebunden, "gewisse Kontakte zwischen der russischen und ukrainischen Regierung zuzulassen", wie Kremlsprecher Dmitri Peskow sagte. "Um solche Verbindungen herzustellen, braucht er die Anerkennung beider Seiten. Und im Fall Abramowitsch ist das gegeben."
Mit Selenskyj gesprochen
Für die ukrainische Seite war der russische Oligarch bereits im Einsatz, Anfang März verhandelte er in deren Delegation. Zusammen mit zwei weiteren Männern soll er nach dem Treffen über Vergiftungssymptome geklagt haben. Sie hätten stundenlang nicht mehr sehen können, ihre Haut habe sich gepellt, berichtete das "Wall Street Journal". Abramowitschs Sprecher bestätigte die Vergiftungssymptome gegenüber der BBC. Kiew, Moskau und Washington dementierten derweil in ungewohnter Einigkeit einen möglichen Giftanschlag.
Die Aussagen der drei Staaten irritierten die Experten des Recherchenetzwerks Bellingcat, das auch über den Vorfall berichtete. "Wir wissen nicht, wer es gemacht hat, aber irgendetwas ist passiert", sagte der Journalist Christo Grozev dem "Guardian". "Die Dosis war nicht ausreichend, um einen der drei zu töten. Das wahrscheinlichste Ziel ist wohl Abramowitsch gewesen", erklärte Investigativjournalist Grozev im Gespräch mit der "Times". "Es könnte als Warnsignal betrachtet werden, sich nicht denen anzuschließen, die anderer Meinung sind, und auch nicht zu sehr zu vermitteln."
Es ist verwunderlich, dass Abramowitsch plötzlich für die ukrainische Seite verhandelt. In einem Interview mit russischen Journalisten hat der ukrainische Präsident Selenskyj verraten, dass Abramowitsch einer von mehreren Unternehmern war, die angeboten hätten, beim Wiederaufbau der Ukraine zu helfen. "Sie haben Angst vor den Sanktionen, ich bin sicher, dass das nicht mit Patriotismus zu tun hat", sagte er. Außerdem berichtete das "Forbes"-Magazin, dass Abramowitsch bereits am Tag der Invasion kontaktiert wurde, als Kiew alle diplomatischen Beziehungen nach Moskau gekappt hatte.
"Kollektiver Gedächtnisverlust"
Aber kann die Ukraine ihm wirklich trauen? "Es scheint, als hätten wir es mit einem kollektiven Gedächtnisverlust zu tun", schreibt die russische Journalistin Maria Pevchikh auf Twitter. Die Investigativjournalistin leitet die Stiftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny und beschäftigt sich seit Jahren mit Korruption in Russland. "Roman Abramowitsch ist der Grund, weshalb Putin noch an der Macht ist", erklärt sie. "Abramowitsch ist Putins ultimative Geldbörse, die ultimative Quelle von Bestechungsgeldern, eine der Personen, die für Putin strategische Vermögenswerte übernehmen und halten."
Abramowitsch war einst der reichste Mensch Russlands, Anfang des Jahres schätzte "Forbes" sein Vermögen auf 8,3 Milliarden US-Dollar. Im Westen kennen ihn die meisten vermutlich als Eigentümer des Londoner Fußballklubs FC Chelsea. 2003 stieg er in den Klub ein, seitdem hat er nach eigenen Angaben mehr als zwei Milliarden Pfund investiert. Der Klub muss nun wegen der Sanktionen der EU und Großbritanniens verkauft werden.
Sein Vermögen konnte Abramowitsch auch dank des Kremls anhäufen. Anfang der 2000er-Jahre handelte Putin einen Deal mit den Oligarchen aus: Sie dürfen ihren Einfluss behalten, solange sie loyal sind. Abramowitsch ist Ende der 1990er-Jahre reich geworden, indem er Unternehmen unter Wert vom russischen Staat eingekauft und später wieder zurückverkauft hat. Dabei bekam er offenbar noch Hilfe aus Moskau. Beispielsweise übernahm Abramowitsch 1995 zusammen mit seinem Geschäftspartner Boris Beresowski vom russischen Staat die Hälfte des Öl-Unternehmens Sibneft und zahlte dafür nur rund 250 Millionen US-Dollar. Die Anteile stockte er auf und verkaufte einen Großteil seines Pakets 2003 für 13 Milliarden Dollar zurück an den russischen Staatskonzern Gazprom.
Wie die BBC berichtet, wurde der russische Staat um 2,7 Milliarden Dollar betrogen, als Sibneft an Abramowitsch verkauft wurde. Der Kreml selbst habe damals verhindert, dass der Fall näher untersucht wird. Abramowitsch wurde später von seinem Geschäftspartner verklagt, der sich seinerseits betrogen fühlte. Ein Gericht in London wies die Klage ab. Abramowitsch sagte in dem Prozess aus, dass er Beresowski Geld gegeben hätte, um Kreml-Beamte zu bestechen.
Offenkundig hatte Abramowitsch einen Draht in den Kreml. Wie sehr er heute noch von Moskau beeinflusst wird, lässt sich schwer sagen. Die ukrainische Seite betrachtet ihn als jemanden, der ihre Positionen "in menschlicher Form" an Kremlchef Putin übermitteln kann, schreibt der britische "Guardian". Nach "Times"-Informationen soll er einen handgeschriebenen Zettel Selenskyjs an Putin übergeben haben. Auch wenn Skepsis angebracht ist - vielleicht versucht Abramowitsch wirklich, zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln. Ein Motiv hätte er: Anders als die USA haben die EU und Großbritannien seine Vermögenswerte eingefroren.
Quelle: ntv.de