Hochbrisant, überwiegend echt Werden geleakte US-Dokumente der Ukraine gefährlich?


Beisetzung eines ukrainischen Soldaten in Lwiw.
(Foto: picture alliance / AA)
Seit Wochen kursieren geheime Unterlagen der US-Regierung im Internet, die viele Details zum Kriegsverlauf und zum Zustand der ukrainischen Armee enthalten. Für die USA ist das peinlich, für die Ukraine gefährlich - weniger wegen dem, was schon öffentlich ist, als wegen dem, was noch kommen mag.
Das US-Verteidigungsministerium ist blamiert: Die vielen Dokumente voller Geheimdienstinformationen, die im Internet kursieren, sind mindestens teilweise echt. Die "New York Times" und auch die "Washington Post" berufen sich auf hochrangige Mitarbeiter in den US-Ministerien und der US-Regierung, die die Authentizität der Papiere bestätigen. Für die USA ist dies in vielerlei Hinsicht problematisch: Eigene Geheimnisse wie etwa Spionage-Aktivitäten und interne Debatten sind öffentlich geworden. Niemand weiß, ob nicht bald noch sensiblere Informationen an die Öffentlichkeit gelangen oder schon längst durch die Foren irgendwelcher Plattformen rauschen. Ferner belasten die Leaks die Beziehungen zu den ausspionierten und damit bloßgestellten Partnerländern.
Derzeit aber besonders folgenreich: Als "top secret" eingestufte Informationen zum Verlauf des Krieges in der Ukraine sind nicht mehr hochgeheim, sondern eher hoch gehypt: Aufgeregt werden Daten und Einschätzungen zur Kampffähigkeit der ukrainischen Armee im Netz diskutiert - und ganz sicher auch in der russischen Armeeführung. Wie sehr die Ukraine, die gerade ihre potenziell entscheidende Frühjahrsoffensive vorbereitet, durch die Leaks geschwächt wird, ist offen.
Nicht neu, aber detailreich
Unter den Papieren sind Pentagon-Dokumente, wie etwa tägliche Briefings zur Entwicklung des Krieges für die Armeeführung. Der Munitionsverbrauch der Ukraine sei "viele Male höher" als die Produktionskapazitäten der Unterstützerländer, zitiert etwa die "Washington Post" aus einem dieser Dokumente. Diese Information aber kommt wenig überraschend und ist so auch schon berichtet worden, nicht zuletzt von Kiew selbst - aber ohne offizielle Bestätigung durch die USA, dem mit Abstand wichtigsten militärischen Unterstützer der Ukraine.
Heikel ist eher die Detailtiefe, wenn etwa die genaue Zahl noch zur Verfügung stehender Munition für einzelne Waffensysteme aufgelistet wird, wobei aber die Aktualität der Zahlen teils Wochen zurückliegt. Die Dokumente sollen schon seit Wochen im Internet sein, könnten also von Beginn an von russischen Diensten ausgemacht und ausgewertet worden sein. Selbst Aufstellungen von Lieferterminen US-amerikanischer Militärausrüstung befinden sich unter den Leaks.
Ferner warnte ein internes US-Dokument von Anfang Februar, das als "top secret" eingestuft war, vor "signifikanten Defiziten" beim Aufbau und Erhalt neuer ukrainischen Truppen. Die geplante Offensive könnte deshalb nur in "überschaubare Territorialgewinne" münden. Als kritisch schätzten die US-Dienste nach einem Bericht von Ende Februar auch die ukrainischen Luftverteidigungskapazitäten ein, etwa um wichtige Standorte, Soldaten und ihre Ausrüstung zu schützen. Mittelstrecken-Raketen zur Luftabwehr könnten bis zum 23. Mai aufgebraucht sein und die Ukraine könnte nur noch zwei bis drei Raketen-Angriffswellen aus Russland standhalten.
Riesenproblem: Luftverteidigung
In den vergangenen Monaten hatte die Ukraine regelmäßig zwischen 50 und 90 Prozent der von Russland abgefeuerten Raketen und Kamikaze-Drohnen vom Himmel holen können, auch dank westlicher Luftverteidigungssysteme wie dem von Deutschland gelieferten IRIS-T. Stimmen die Angaben aus den Dokumenten, hat es Russland dennoch geschafft, sich in der Materialschlacht einen möglichen Vorteil zu erarbeiten: Kommende russische Raketen-Kampagnen könnten einen sehr viel größeren Schaden anrichten als bislang - vorausgesetzt, die Russen verfügen selbst noch über eine signifikante Zahl halbwegs moderner Raketen. Die ukrainische Verteidigungsfähigkeit gegen Angriffe aus allen Höhen sinke, stellten die US-Dienste Ende Februar fest.
Das passt zur Debatte auf dem Ramstein-Treffen der Ukraine-Partner im Februar: Das Land brauche "Luftverteidigung, Luftverteidigung, Luftverteidigung!", erklärten damals US-Verteidigungsminister Lloyd Austin und sein neuer Amtskollege Boris Pistorius. Die nach dem Abschuss der Passagiermaschine MH17 einer breiten Öffentlichkeit bekannt gewordenen Buk-Raketen sollen bis Mitte April verbraucht sein, ebenso die Munition für das hochmoderne NASAMS-Luftabwehrsystem, was die USA bereitgestellt haben.
Dabei ist Luftverteidigung essenziell für die geplante Frühjahrsoffensive: Wenn die Ukraine im großen Stil losschlagen will, muss sie ihre Truppen gegen russische Luftangriffe schützen können. Bislang hat Russland seine eigentlich überlegene Luftwaffe nur zurückhaltend eingesetzt und Kampfbomber oft nur von russischem Luftraum aus schießen lassen - eben weil die Ukraine in der Lage war, diese auszuschalten. Dass die Leaks sogar Karten mit den Standorten ukrainischer Luftabwehrstellungen enthalten, spielte die ukrainische Luftwaffe herunter: "Wir ändern ständig unsere Positionen", zitiert die "Washington Post" deren Sprecher Yuriy Ihnat. Monate alte Informationen seien daher längst obsolet. Das gilt erst recht für mobile Luftverteidigungssysteme wie den deutschen Gepard-Panzer, der in der Offensive eine wichtige Rolle spielen dürfte.
Kaum Neuigkeiten zur Frühjahrsoffensive
Die geleakten Details zur geplanten Offensive warten kaum mit Überraschungen auf: Die Ukraine wolle Druck im Osten ausüben und vor allem im Süden vordringen, um die Landbrücke zwischen dem von Russland besetzten Donbass und der Krim-Halbinsel zu unterbrechen. Das könnte für Russland die Verteidigung der 2014 annektierten Krim erschweren, wenn nicht unmöglich machen und eine neue Dynamik in Gang setzen. Eben deshalb ist genau diese Süd-Offensive das von vielen Experten erwartete Szenario.
Laut "Washington Post" haben hochrangige US-Vertreter in den vergangenen Wochen großen Aufwand betrieben, um in Kiew realistische Erwartungen an die eigene Offensive zu wecken. Demnach müsste die ukrainische Armee nicht unbedingt bis zum Asowschen Meer durchstoßen, was die eigenen Kapazitäten überfordern könnte. Es würde aus US-Sicht schon einen Unterschied machen, wenn der russische Landkorridor im Süden der Ukraine dermaßen ausgedünnt wird, dass jedweder Militärtransport durch diese besetzten Gebiete in Reichweite der ukrainischen Waffen gerät. Derzeit kann Kiews Armee mit hochmodernen US-Raketen bis zu 150 Kilometer weit entfernte Ziele präzise treffen.
Dass die von Russland vorgenommenen Sicherungsmaßnahmen wie Schützengräben, Panzersperren und Minenfelder die ukrainische Offensive ebenso ausbremsen könnten wie die fehlende Kampferfahrung der neu ausgebildeten ukrainischen Soldaten, halten die Dokumente ebenfalls fest. Doch diese Probleme sind seit Wochen schon in vielen Experten-Interviews zum Thema zu lesen. Die Frage ist, wie die politische und militärische Führung in Kiew die eigenen Kapazitäten einschätzt und welche Schlüsse sie daraus zieht. Neu ist die Erkenntnis, vor welchen immensen Hürden die erwartete Offensive steht, jedenfalls nicht.
Was kommt da noch?
Hierzu passt, dass die ukrainische Führung wiederholt beteuerte, die Leaks würden keine Planänderungen nach sich ziehen. Problematischer ist eher schon die Belastung für das Verhältnis zwischen Kiew und Washington. Denn aus den Unterlagen geht klar hervor, dass die Amerikaner sich in ihrer Einschätzung des Krieges nicht allein auf die Informationen ihrer ukrainischen Partner verlassen, sondern US-Dienste auch eigene Aufklärung in dem Partnerland betreiben.
Das ist erstmal wenig überraschend. Weil aber unklar ist, welche weiteren Geheimnisse der oder die Maulwürfe im Pentagon noch ins Netz stellen werden, sind nun ausgerechnet die USA zum Sicherheitsrisiko für die Ukraine geworden: Militärgeheimnisse, die das angegriffene Land unter großem Aufwand wahrt, werden von den USA ausspioniert und potenziell über den eigenen, undichten Laden öffentlich. Die "Washington Post" weiß von großer Verärgerung in Kiew zu berichten, auch wenn sich dort niemand zum Thema mit Klarnamen zitieren lassen möchte. Ein für alle sichtbarer Konflikt zwischen Washington und Kiew würde am Ende nur Russland nützen.
Ebenfalls unschön aus ukrainischer Sicht ist das Bekanntwerden der Risse im globalen Unterstützernetzwerk der Ukraine. Dass Ägypten trotz massiver Militärhilfen aus den USA und den EU-Staaten offenbar plante, seinerseits Munition an Russland zu verkaufen, ist einigermaßen überraschend. Ein von der BBC ausgewertetes Dokument legt zudem nahe, dass US-Dienste einen Konflikt zwischen den Beratern des südkoreanischen Präsidenten Yoon Suk Yeol ausspionierten. Dabei geht es um die Frage, ob Seoul auf US-Druck hin Waffen an die Ukraine liefern oder an seiner Politik festhalten soll, keine Waffen in Konfliktgebiete zu schicken. Südkorea dementierte am Dienstag die Echtheit der US-Dokumente, diese seien "verfälscht" worden. Allerdings kann sich Südkorea in seinem Dauerkonflikt mit Nordkorea auch keine öffentlich ausgetragenen Streits mit den USA leisten.
Darin erinnert der Vorgang an Edward Snowden, der 2013 die globalen Spähaktivitäten der USA öffentlich gemacht hatte. Besonders befreundete Staaten wie Deutschland waren systematisch vom NSA abgehört und Kommunikation mitgelesen worden. Für die Beziehungen dieser Länder zu den USA blieben die Leaks aber meist folgenlos, weil die Ausgespähten schon aus Sicherheitsgründen auf einen guten Draht nach Washington angewiesen blieben. Sollte im aktuellen Fall die Unfähigkeit des Pentagon im Umgang mit Geheimdienstinformationen der Ukraine substanziellen Schaden zugefügt haben, könnte das erst nach Jahren bekannt werden. Solange der Krieg mit Russland tobt, wird man in Kiew seinen Ärger herunterschlucken müssen.
Quelle: ntv.de