"Es ist gewaltiger Verrat" Geschocktes Pentagon brütet über Ausmaß des Lecks
11.04.2023, 15:31 Uhr Artikel anhören
Erleben stürmische Tage: US-Oberkommandeur Mark Milley (Mitte) und Verteidigungsminister Lloyd Austin (rechts).
(Foto: AP)
Wer ist die Quelle? Plant der Maulwurf weitere Veröffentlichungen? Und welchen Zugang hat er zu Mark Milley, Oberkommandeur der US-Streitkräfte? Im Pentagon wird wegen der veröffentlichten Geheiminformationen zum Ukraine-Krieg jeder Stein umgedreht.
Der Skandal um die geleakten Geheimdokumente aus dem Pentagon alias US-Verteidigungsministerium könnte sich noch in ungeahnte Dimensionen ausweiten. Bekannt ist, dass bislang mehr als 100 Dokumente auf verschiedenen Online-Plattformen die Runde gemacht und sensible Geheimdienstinformationen über den Ukraine-Krieg preisgegeben haben. Offenbar erst nach der ersten Veröffentlichung wurden einige wenige Angaben verfälscht und an anderer Stelle erneut hochgeladen.
Das wirft viele Fragen auf, über den potenziellen Verräter, über seine Motivation und Rolle in einem Krieg, den mindestens die russische Seite auch als Informationskonflikt führt. Den Verantwortlichen und dem US-Militär wird vor allem eines den Schweiß auf die Stirn treiben: Allen Anzeichen nach stammen die Dokumente von einem Maulwurf in den USA. Er könnte weitergraben. Und niemand weiß, wann er wieder neue Erde an die Oberfläche stößt.
Das US-Justizministerium hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Zugleich drehen die Verantwortlichen im Pentagon jeden Stein um. Sie beschäftigen sich nicht nur mit der Vergangenheit, also wer der Maulwurf sein könnte sowie dem Hergang des Leaks. Sondern auch damit, welche Folgen die undichte Stelle in Zukunft noch haben könnte. "Das Ministerium versucht weiterhin festzustellen, was sich da draußen befinden könnte", sagte Chris Meager, Sprecher des Pentagon, am Montag.
Breiter Zugriff auf Geheimdokumente
Das Pentagon kann noch nicht einmal sagen, in welchem Ausmaß bislang Geheiminformationen abgeflossen sind. Wie sollte es auch? Laut Büro des US-Geheimdienstchefs hatten im Jahr 2019 insgesamt 1,25 Millionen Personen Zugang zu "Top Secret"-Dokumenten, der höchsten Geheimhaltungsstufe, etwa die Hälfte davon waren in staatlichen Stellen beschäftigt, 472.000 Personen bei Vertragspartnern.
Dies ist die letzte offizielle Zahl dazu. Nichts deutet darauf hin, dass sie sich wesentlich verändert hat. Unklar ist, ob die veröffentlichten Informationen allen Personen mit der entsprechenden Berechtigung auch tatsächlich zugänglich waren. "Mehrere hundert Personen in der Regierung" hätten jeden Tag Zugriff auf solche Informationen, gaben US-Verantwortliche an. "Wir wissen nicht, wer dahinter steckt", sagte am Montag John Kirby, Sprecher des Nationalen Sicherheitsrates: "Wir wissen nicht, was das Motiv ist."
Das Leak löste in der vergangenen Woche eine diplomatische Krise aus. Meagers Chef, Verteidigungsminister Lloyd Austin, hat eine ressortübergreifende Anstrengung angeordnet, um die potenziellen Folgen einzudämmen. Nun wird mit Verbündeten und Kongressmitgliedern gesprochen, und das weitere Vorgehen soll bestimmt werden. Das Ministerium denkt darüber nach, ob der Zugang zu den Geheiminformationen auf einen noch engeren Personenkreis beschränkt werden kann, und wie das geschieht.
Aber es ist nicht bekannt, wo der Maulwurf auf welches Material zugreifen kann, ob er bereits weitere Informationen gesammelt hat und ob er sie veröffentlichen will und wird. Ob die undichte Stelle eingedämmt sei oder weiterhin eine Gefahr darstelle, fragte ein Reporter am Montag. "Das wissen wir nicht. Wirklich nicht", antwortete Kirby. Die veröffentlichten Informationen könnten nur der Anfang sein; weitere, womöglich aktuellere und kriegsentscheidende Informationen an die Öffentlichkeit und nach Moskau gelangen.
Am Wochenende, als das Ausmaß des Leaks immer größer wurde, hätten die Mitarbeiter im Verteidigungsministerium geschockt und äußerst besorgt reagiert, schreibt "Politico". "Es ist gewaltiger Verrat", wird einer von ihnen zitiert. Er sei vor allem wütend. Auf Tablets und ausgedruckt habe er Geheiminformationen "überall im Pentagon" gesehen. Die neuesten veröffentlichten Dokumente wurden abfotografiert.
Nähe zum US-Oberkommando?
Laut dem Investigativkollektiv Bellingcat stammen die Informationen aus monatelangen Veröffentlichungen auf einem Gaming-Server und fanden nach und nach ihren Weg auf andere, stärker frequentierte Plattformen im Netz. Die nun bekannten Veröffentlichungen seien "nur die Spitze des Eisbergs", sagten mehrere Nutzer des Gaming-Servers zu Bellingcat. Die Dokumente stammten ursprünglich von einem Administrator des Servers, gab einer von ihnen an. Es ist unklar, ob das wirklich so ist.
Besonders besorgt sind die US-Verantwortlichen darüber, dass einige der Geheimdokumente aus dem Februar und frühen März stammen, also strategische Bedeutung im Krieg bekommen könnten. Auch deshalb ist es die bedeutsamste Veröffentlichung von US-Geheimdokumenten seit 2013, als der Whistleblower Edward Snowden die umfassenden Spionageaktivitäten der US-Geheimdienste und ihrer Verbündeten entlarvte.
Laut "Washington Post" könnten viele der Informationen aus einem Dossier stammen, das im Laufe des Winters für US-Oberkommandeur Mark Milley zusammengestellt worden war. Das würde auf einen Maulwurf an hoher Stelle hinweisen. Falls dies so ist, könnten allgemeine Einschränkungen des Zugangs zu Geheiminformationen nicht ausreichen, um weitere Veröffentlichungen zu verhindern. Sondern der Verantwortliche müsste identifiziert und entfernt werden.
Quelle: ntv.de