Nord-Stream-Anschläge Wiek, Wieck und eine ganze Reihe offener Fragen
10.03.2023, 12:18 Uhr
Die Anschlagstelle liegt in internationalen Gewässern in der Nähe der dänischen Insel Bornholm.
(Foto: via REUTERS)
In dieser Woche erschienen mehrere Berichte über angebliche Spuren, die im Fall des Anschlags auf die Nord-Stream-Pipelines in die Ukraine führen. Doch in den Texten gibt es Ungereimtheiten.
Seit Monaten rätseln die Öffentlichkeit in Deutschland und anderen Ländern darüber, wer für die Explosionen an den Pipelines Nord Stream 1 und 2 verantwortlich sein könnte. In dieser Woche erschienen Berichte in deutschen und amerikanischen Medien, in denen es hieß, die Anschläge seien von einer "pro-ukrainischen Gruppe" verübt worden. Zugleich wurde betont, es gebe keine Hinweise, dass die ukrainische Regierung involviert sei.
Allerdings gibt es in diesen Berichten eine Reihe von Ungereimtheiten. Der CDU-Verteidigungsexperte Roderich Kiesewetter sagte dazu im "Frühstart" bei ntv, es sei weiterhin offen, wer hinter den Sabotageakten stehe. "Es gibt ein Schiff, das kann aber auch völlig andere Dinge gemacht haben - Sprengstofffischer oder sonst etwas", so Kiesewetter. "Den Zusammenhang herzustellen, kann bewusst eine Finte sein."
Die Ungereimtheiten betreffen vor allem eine Jacht, die von sechs Personen gemietet worden sein soll. Von der Bundesanwaltschaft hieß es dazu lediglich, dass sie im Januar ein Schiff durchsuchen ließ, und zwar "im Zusammenhang mit einer verdächtigen Schiffsanmietung". Eine Sprecherin der höchsten deutschen Ermittlungsbehörde sagte, es bestehe der Verdacht, dass das Schiff zum Transport von Sprengsätzen verwendet worden sei, die am 26. September 2022 an den Pipelines explodiert waren.
Die Segeljacht "Andromeda"
Die Mitteilung der Bundesanwaltschaft schien eine Bestätigung der Berichte zu sein, die kurz zuvor von ARD, SWR und der "Zeit" veröffentlicht worden waren. Demnach hatte eine aus sechs Personen bestehende Gruppe eine Jacht angemietet, um den Sprengstoff zu den Pipelines zu befördern und dort in 70 bis 80 Meter Tiefe an den Röhren der Gasleitungen zu befestigen. Den Berichten zufolge bestand die Gruppe aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin. Am 6. September, also knapp drei Wochen vor den Explosionen, soll die Gruppe den Hafen von Rostock verlassen haben.
Die Firma, bei der das Schiff gemietet wurde, soll zwei Ukrainern gehören - dies ist offenbar die einzige Verbindung, die zwischen dem "Kommando" auf der Jacht und der Ukraine besteht. Eine Verbindung zu staatlichen Stellen lasse sich nicht herstellen, heißt es in den Berichten ausdrücklich. Dennoch schrieb sowohl die ARD als auch die "Zeit" von "Spuren", die "in die Ukraine" führen.
Später wurden noch weitere Details bekannt. So mietete die Gruppe nach Informationen des "Spiegel" eine Segeljacht vom Typ Bavaria Cruiser C mit dem Namen "Andromeda". Recherchen von RTL und ntv bestätigen diese Darstellung.
Wieck oder Wiek?
Erste Zweifel an den Berichten machten sich an einem Hafen fest, in dem die "Andromeda" am Tag nach dem Auslaufen aus dem Hafen Rostock angelegt haben soll. Zunächst berichteten ARD, SWR und "Zeit", die Jacht sei von Rostock nach Wieck gesegelt, einem kleinen Ort auf dem Darß.
Dieser Hafen liegt allerdings nicht an der Ostsee, sondern am Bodden, einem Gewässer südlich der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Zudem hat der Hafen des Ortes nur eine Wassertiefe von rund 1,5 Metern. Eine vollbeladene Jacht von der Größe der "Andromeda", mit mehr als einer Tonne Sprengstoff an Bord könnte Wieck nicht ansteuern. Auch den Hafen der dänischen Insel Christiansø nordöstlich von Bornholm soll das Schiff angelaufen haben.
Eine neue Spur führt nach Rügen: Nach Informationen von RTL und ntv lief die "Andromeda" am 7. September den Jachthafen von Wiek im Norden der Ostseeinsel an. Der Betreiber des Hafens berichtet, im Januar Besuch von Ermittlern bekommen zu haben. Ein Sprecher des Bundeskriminalamts sagte auf Anfrage, das BKA äußere sich grundsätzlich nicht zu Ermittlungsverfahren, und verwies an den Generalbundesanwalt. ARD, SWR und "Zeit" haben ihre Berichte mittlerweile korrigiert und sprechen nun ebenfalls vom Jachthafen Wiek auf Rügen.
Eine Reise unter dem Radar
Die genaue Route der Jacht nachzuvollziehen, ist äußerst schwierig. Die Jacht, die vor rund zehn Jahren gebaut wurde, verfügt nicht über das automatische Identifikationssystem AIS. Mit diesem Funksystem lassen sich Schiffsrouten auch im Nachhinein verfolgen.
Welche Rolle spielt die "Minerva Julie"?
Das gilt aber nicht für den Öltanker "Minerva Julie", der im September auf dem Weg von Rotterdam nach St. Petersburg war. Der renommierte dänische Datenanalyst Oliver Alexander wies bereits vor Bekanntwerden der jüngsten Berichte darauf hin, dass die "Minerva Julie" damals tagelang in der Gegend der späteren Explosionsstelle kreiste - mitten auf der Ostsee, ohne erkennbaren Grund. Wenn die Jacht aus Rostock den Sprengstoff dort platziert hat, dann müssten die beiden Schiffe zwischenzeitlich in Sichtweite gefahren sein. Alexander bringt eine mögliche Mittäterschaft der "Minerva Julie" ins Spiel, die bislang allerdings nicht bestätigt werden kann.
Fragen werfen auch die angeblichen Informationen über den Sprengstoff auf, den die Gruppe verwendet haben soll. Nach Informationen der "New York Times" wurde der Sprengstoff von Polen aus in den Rostocker Hafen transportiert. Mehr als eintausend Kilogramm Sprengstoff über eine Grenze zu bringen, bedeutet, dass die Verdächtigen ein erhebliches Risiko eingegangen sind. Und das dem Anschein nach ohne plausiblen Grund: Der Seeweg von der polnischen Küste zur Explosionsstelle der Nord-Stream-Pipelines ist deutlich kürzer.
Dazu kommt, dass die Verdächtigen die Jacht in ungereinigtem Zustand hinterlassen haben sollen. So konnten die Ermittler Sprengstoffreste an Bord finden. Kann das bei einer derart anspruchsvollen Mission ein Versehen gewesen sein? Das ist mindestens zweifelhaft. Sicher ist vorläufig nur eines: Die jüngsten Enthüllungen werfen mehr Fragen auf, als sie beantworten.
Quelle: ntv.de