Politik

Dürre Spuren in die Ukraine Was über den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipelines bekannt ist

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Um den Sprengstoff an den Pipelines zu platzieren, mussten die Taucher bis zu 80 Meter tief gehen.

(Foto: dpa)

Mehrere deutsche Medien sowie die "New York Times" und die "Washington Post" berichten über neue Erkenntnisse im Fall des Anschlags auf die Nord-Stream-Gasleitungen in der Ostsee. Vor allem die deutschen Berichte enthalten einige interessante Details. Auf der Grundlage der bekannten Erkenntnisse kann allerdings von einer belastbaren Spur keine Rede sein.

Was ist über die Explosionen an den Nord-Stream-Pipelines bekannt?

Nach Recherchen des ARD-Hauptstadtstudios, des Magazins Kontraste, des SWR und der "Zeit" haben Ermittler eine ganze Reihe von Erkenntnissen rund um die Anschläge auf die Gasleitungen zusammengetragen. So "soll" ein sechsköpfiges Kommando für die Sprengungen verantwortlich sein; die vorsichtige Formulierung wird auch von den Journalisten verwendet, die für die ARD und für die "Zeit" ihre Informationen aufgeschrieben haben.

Den Berichten zufolge bestand die Gruppe aus einem Kapitän, zwei Tauchern, zwei Tauchassistenten und einer Ärztin. Zusammen sollen sie am 6. September - knapp drei Wochen vor den Explosionen - in Rostock eine Jacht gemietet haben. Nach Rückgabe des Schiffs wurden darin Spuren von Sprengstoff gefunden. Laut "Zeit" könnte das darauf hindeuten, dass die Attentäter nicht ausreichend Zeit hatten, ihre Spuren zu verwischen. Aber das ist möglicherweise nur Spekulation. Ebenso könnte man vermuten, dass die Gruppe eine Spur legen wollte.

Die Jacht wurde in Wieck gesichtet, einem kleinen Ort in Mecklenburg-Vorpommern, der von der Ostsee nur über den Bodden erreichbar ist, das Gewässer südlich der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Auch den Hafen der dänischen Insel Christiansø nordöstlich von Bornholm soll das Schiff angelaufen haben. (Nachtrag: Die "Ostsee-Zeitung" zitiert den Hafenmeister von Wieck, der vermutet, dass nicht sein Ort gemeint ist, sondern Wiek auf Rügen. Das "würde mehr Sinn machen, wenn die gen Bornholm wollten". Diese Korrektur haben die betreffenden Medien am Donnerstagabend bestätigt.)

Was sagt die Bundesanwaltschaft?

Nicht viel. Am Mittwoch teilte sie auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit, dass sie vom 18. bis zum 20. Januar "im Zusammenhang mit einer verdächtigen Schiffsanmietung" eine Durchsuchung auf einem Schiff habe durchführen lassen. Es bestehe der Verdacht, dass es zum Transport von Sprengsätzen verwendet worden sei, die am 26. September 2022 an den Pipelines explodiert waren, so eine Sprecherin der Behörde. Die Auswertung der sichergestellten Spuren und Gegenstände dauere an. "Die Identität der Täter und deren Tatmotive sind Gegenstand der laufenden Ermittlungen", heißt es aus Karlsruhe weiter. "Belastbare Aussagen hierzu, insbesondere zur Frage einer staatlichen Steuerung, können derzeit nicht getroffen werden."

Und die Spuren in die Ukraine?

Die an den jüngsten Recherchen beteiligten Journalisten schreiben in ihren Artikeln, den Ermittlungen zufolge "führen Spuren in Richtung Ukraine" beziehungsweise würden "auf Verbindungen in Richtung Ukraine" deuten. Als Beleg führen sie an, dass die Firma, von der die Jacht gemietet wurde, "offenbar" zwei Ukrainern gehört. Dies seien Hinweise auf eine "pro-ukrainische Gruppe".

Wirklich sicher klingen diese Hinweise nicht. Es kann natürlich sein, dass die Ermittler über weitere Spuren verfügen, die "Richtung Ukraine" führen. Bislang ist davon aber nichts bekannt.

Gibt es nicht neue Erkenntnisse der US-Geheimdienste?

Es gibt entsprechende Berichte, die allerdings ziemlich vage sind. Mehr oder weniger zeitgleich zu den Berichten von ARD und "Zeit" erschienen Artikel in der "New York Times" und der "Washington Post", denen zufolge es "neue" oder "mehr" Geheimdiensterkenntnisse gebe, die Richtung Ukraine deuten würden. Beide Zeitungen sprechen ebenfalls von einer "pro-ukrainischen Gruppe", die den Anschlag ausgeführt haben könnte. Hinweise, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj oder sein Umfeld den Befehl gegeben hätten oder anderweitig involviert seien, gebe es nicht, schreibt die "New York Times". Die "Washington Post" betont, es gebe "noch immer keine forensischen Beweise", die auf ein bestimmtes Land wiesen.

Die Überprüfung der neu gesammelten Informationen lasse vermuten, dass es sich bei der Gruppe um "Gegner des russischen Präsidenten" handele, schreibt die "New York Times". Es gebe aber keine Angaben zu den Mitgliedern der Gruppe, "oder wer die Operation geleitet oder bezahlt hat". Der Sicherheitsexperte Nico Lange schreibt mit Blick auf den Artikel der "New York Times", den US-Geheimdiensten scheine vor allem der Hinweis wichtig gewesen zu sein, dass "keine Amerikaner oder Briten" an dem Anschlag beteiligt gewesen seien.

Was ist eigentlich im September passiert?

In der Nacht vom 25. zum 26. September wurden drei der vier Nord-Stream-Pipelines östlich der Insel Bornholm in 70 bis 80 Meter Tiefe gesprengt. Beide Pipelines bestehen aus zwei Strängen; bei der jüngeren Gasleitung Nord Stream 2 wurde Strang A beschädigt.

Zum Zeitpunkt der Explosionen waren beide Pipelines mit Gas gefüllt, aber nicht in Betrieb. Wegen der russischen Kriegsdrohungen gegen die Ukraine hatte die deutsche Seite die Zertifizierung von Nord Stream 2 im November 2021 ausgesetzt und am 22. Februar 2022 gestoppt, so dass die Leitung nie in Betrieb ging. Der Lieferstopp über Nord Stream 1 begann im Sommer 2022 und wurde zunächst mit angeblich notwendigen Wartungen begründet, bis der Kreml Anfang September mitteilte, es werde kein Gas fließen, solange die Sanktionen in Kraft seien.

Wer könnte ein Interesse daran haben, dass die Pipelines nicht funktionieren?

Beide Pipelines wurden von Deutschland lange als rein wirtschaftliche Projekte dargestellt, aber das entsprach nie der Wahrheit. Warnungen von osteuropäischen Staaten und aus den USA, dass Deutschland sich energiepolitisch von Russland abhängig mache, wurden von Berlin konsequent ignoriert. Noch bei seinem Besuch in Washington Anfang Februar 2022 vermied es Bundeskanzler Olaf Scholz, explizit mit Konsequenzen für Nord Stream 2 zu drohen, wenn Russland die Ukraine angreifen sollte. US-Präsident Joe Biden war da weniger zimperlich. Neben Scholz stehend sagte er, wenn russische Panzer die Grenze zur Ukraine überqueren würden, "dann wird es Nord Stream 2 nicht längergeben".

Der Satz wird als Hinweis zitiert, dass die USA hinter den Pipeline-Explosionen stecken könnten, aber tatsächlich ist so eine Bemerkung kein Indiz. Der US-Investigativjournalist Seymour Hersh, der im Februar schrieb, US-Marinetaucher hätten die Sprengsätze an den Pipelines angebracht, berief sich auf nur eine Quelle. Ein Interview, das er der "Berliner Zeitung" gab, ist voller Geraune: "Die Leute, denen Unternehmen gehören, die Pipelines bauen, kennen die Geschichte", sagte Hersh darin beispielsweise. "Ich habe die Geschichte nicht von ihnen erfahren, aber ich habe schnell erfahren, dass sie es wissen." Der Grund für die Sprengung der Pipeline sei gewesen, dass die USA Angst hatten, "dass Deutschland die Sanktionen wegen eines kalten Winters aufheben würde". Der Terrorexperte Peter Neumann bewertete Hershs Artikel als unplausibel.

Ein ähnliches Motiv wie das von Hersh unterstellte könnten auch Polen und die Ukraine gehabt haben. Die gemeinsame Basis für solche Spekulationen ist die Annahme, dass diese Länder der Bundesrepublik zutrauen, nach dem Krieg erneut gemeinsame Sache mit Russland zu machen - eine Folge von Jahrzehnten der deutschen Ostpolitik, die Nähe zu Moskau über die Interessen der östlichen EU-Partner stellte.

Was ist mit Russland?

Die "New York Times" schreibt, es sei unklar, welches Motiv der Kreml für einen solchen Anschlag gehabt haben könnte. Allerdings sind mögliche russische Motive breit diskutiert worden. So könnte es sein, dass Russland die Energiepreise in Europa in die Höhe treiben wollte. Eine andere Möglichkeit wäre, dass der Kreml den Bruch mit dem Westen unumkehrbar machen wollte. Und schließlich ist denkbar, dass Putin dem Westen mit der Aktion demonstrieren wollte, wie angreifbar Pipelines sind ist. So schrieb der frühere Strategiechef des russischen Ölkonzerns Gazprom Neft, Sergey Vakulenko, die Explosionen seien zeitlich mit der Einweihung einer anderen Ostseepipeline zusammengefallen, über die norwegisches Gas nach Polen transportiert wird.

Wie mit Blick auf die USA, die Ukraine oder Polen sind auch das allerdings nur potenzielle Motive, keine Indizien für eine russische Beteiligung. Nach Angaben der "New York Times" haben die USA keine Hinweise auf eine Verwicklung der russischen Regierung.

Peter Neumann sagte RTL und ntv, es handele sich offenbar um eine professionell geplante Operation, die wahrscheinlich "eine staatliche Verbindung" habe. Das bedeute nicht unbedingt, dass ein Staat der Auftraggeber sei, "aber möglicherweise Gruppen, die vielleicht einem Staat nahestehen".

Ist eine "False Flag"-Operation auszuschließen?

Bei Operationen "unter falscher Flagge" werden absichtlich Spuren hinterlassen, um Ermittler und Öffentlichkeit in die Irre zu führen. Dass es nur so aussehen soll, als stammten die Täter aus der Ukraine, schließen die deutschen Behörden nach Angaben der "Zeit" nicht aus, halten die Wahrscheinlichkeit aber für gering. Der ARD zufolge wird in "internationalen Sicherheitskreisen" nicht ausgeschlossen, dass es sich auch um eine "False Flag"-Operation handeln könne. Es seien aber "offenbar" keine Hinweise gefunden worden, die ein solches Szenario bekräftigen.

Wie würden westliche Regierungen damit umgehen, wenn sie Hinweise darauf hätten, dass Russland hinter dem Anschlag steckt?

Der dänische Militäranalyst Anders Puck Nielsen hält es für wahrscheinlich, dass Russland hinter dem Anschlag auf Nord Stream steckt. Auch wenn man diese Annahme nicht teilt, sind seine weiteren Überlegungen interessant: Er findet es nicht überraschend, dass westliche Staaten nicht über eine russische Verwicklung sprechen wollen. Russland führe schon jetzt einen hybriden Krieg gegen den Westen, sagt Nielsen in seinem Youtube-Kanal. Ziel dieser hybriden Kriegführung sei es, Angst und Unsicherheit in westlichen Ländern zu verbreiten, damit die Stimmung gegen die Ukraine kippt. Nielsen argumentiert, in dieser Situation wäre es für westliche Politiker kontraproduktiv, offen über russische Operationen zu sprechen. "Wenn sie aus einem hybriden Angriff eine große Sache machen, dann würden sie dem Angreifer nur einen Gefallen tun."

(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 08. März 2023 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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