Im Abseits Das "abgehängte Prekariat"
16.10.2006, 11:33 UhrEtwa acht Prozent der Bevölkerung fühlen sich nach einer Studie im Auftrag der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung auf der Verliererseite und im gesellschaftlichen Abseits. Ihre Distanz zu Parteien und Politikern ist nach dieser Untersuchung enorm. Sie fühlen sich von den bisherigen Reformen am stärksten benachteiligt, die Demokratie halten sie nicht für die beste Regierungsform. Eher stehen sie der Idee des Sozialismus positiv gegenüber.
Gesellschaftsforscher bezeichnen diese wachsende Gruppe in der Studie als neue Unterschicht oder als "abgehängtes Prekariat". 20 Prozent der Ostdeutschen und vier Prozent der Westdeutschen zählen demnach dazu.
Unter "Prekarisierung" (von prekär: unsicher, schwierig) versteht man die wachsende Zahl der bislang atypischen Beschäftigungsverhältnisse in der Erwerbsarbeit (geringe Sicherheit, niedriger Lohn, Teilzeit, wenig Kündigungsschutz) und die daraus resultierenden ökonomischen, sozialen und psychologischen Folgen.
"Viele erleben den gesellschaftlichen Abstieg", heißt es in der Untersuchung der Wahlforscherin Rita Müller-Hilmer vom Institut TNS Infratest über die "Gesellschaft im Reformprozess". Die Gruppe werde von Männern dominiert und sei vor allem im ländlichen Raum in Ostdeutschland stark verankert, wird in der Studie festgestellt. Zwei Drittel seien bereits einmal arbeitslos gewesen.
Von allen untersuchten Gruppen gebe es bei dem "abgehängten Prekariat" die größte finanzielle Unsicherheit mit einem geringen Nettoeinkommen, Schulden und wenig familiärem Rückhalt. "Sie empfinden ihre gesamte Lebenssituation als ausgesprochen prekär", heißt es. Ihr favorisiertes Gesellschaftsmodell sei ein stark regulierender Staat, der soziale Absicherung garantiert.
Der gewerkschaftliche Organisationsgrad in dieser Gruppe sei überdurchschnittlich hoch. Bei der Bundestagswahl 2005 sei dort zugleich der Nichtwähler-Anteil am höchsten gewesen. Von denen, die zur Wahl gegangen seien, hätten 26 Prozent für die Linkspartei und sechs Prozent für rechtsradikale Parteien votiert. Für die Rechten sei diese Gruppe inzwischen das größte Potenzial. Die SPD erzielte danach bei dieser Gruppe 32 Prozent, die Union 26 Prozent.
Nach Angaben der Friedrich-Ebert-Stiftung soll die Studie im kommenden Monat veröffentlicht werden. Die bislang bekannt gewordenen Ergebnisse der Untersuchung stammen aus einem internen Arbeitspapier.
Die Ebert-Stiftung wies darauf hin, dass sie den Begriff der "Unterschicht" in ihrer Studie nicht verwende. Angestoßen wurde die laufende Debatte von SPD-Chef Kurt Beck. Dieser hatte in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" vom 8. Oktober gesagt, Deutschland habe ein zunehmendes Problem. "Manchen nennen es 'Unterschichten-Problem'. Die Gesellschaft hat an Durchlässigkeit verloren."
Der Begriff "Schicht", mit dem Soziologen die vertikale Gliederung der Gesellschaft beschreiben, hat in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts den älteren Begriff der "Klasse" abgelöst. Heute gilt das Schichtenmodell wiederum als überholt. Soziologen sprechen von sozialen Gruppen, Milieus oder ähnlichem.
Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung soll ermitteln, "welche Wertepräferenzen in der Bevölkerung vorliegen und welche Zuordnungen zu 'politischen Typen' diese Präferenzen erlauben". Ziel der Studie ist, "zu klaren Aussagen über neue 'politische Milieus' zu kommen", erklärte Frank D. Karl von der Friedrich-Ebert-Stiftung. Insgesamt wurden neun "politische Typen" ermittelt: die "Leistungsindividualisten" (Gegner staatlicher Eingriffe, häufig FDP-nah), die "etablierten Leistungsträger (das kleinstädtische liberal-konservative Milieu), die "kritischen Bildungseliten" (meist Wähler von SPD, Grünen oder Linkspartei), das "engagierte Bürgertum" (bürgerliches, rot-grünes Kernmilieu), die "zufriedenen Aufsteiger (leistungsorientierte moderne Arbeitnehmermitte, häufig Unionswähler, ein Drittel tendiert zur SPD), die "bedrohte Arbeitnehmermitte" (industriell geprägte Arbeitnehmerschaft), die "selbstgenügsamen Traditionalisten" (überdurchschnittliche Zustimmung zur SPD, starke Ablehnung der Grünen) und schließlich das "abgehängte Prekariat".
Quelle: ntv.de