Dossier

Kampf um Wahrheit Sobibor-Überlebender sagt aus

Thomas Blatt hat die Reise von den USA nach Deutschland gerne auf sich genommen. Um gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher John Demjanjuk auszusagen.

Thomas Blatt hat die Reise von den USA nach Deutschland gerne auf sich genommen. Um gegen den mutmaßlichen NS-Verbrecher John Demjanjuk auszusagen, ist der wahrscheinlich einzige noch lebende ehemalige Häftling des NS-Vernichtungslagers Sobibor von Kalifornien nach München gekommen.

Den zwölfstündigen Flug hat der 82-Jährige problemlos weggesteckt. Gerade als sein mutmaßlicher früherer Peiniger nach der Abschiebung aus den USA ärztlich betreut per Sonderflug in München landet, macht sich Blatt auf den Weg zum Polizeipräsidium in der Ettstraße. Mehrere Stunden gibt er dort zu Protokoll, was er gegen den 89-jährigen Demjanjuk, der Wachmann in Sobibor im besetzen Polen gewesen sein soll, anzuführen hat. Vielleicht schon im Herbst könnten sich die beiden Männer vor Gericht gegenüberstehen. Die Staatsanwaltschaft München will Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 29.000 Juden anklagen.

"Treiber in der Todesmaschinerie"

Vor 66 Jahren hat der damals 23-jährige Demjanjuk möglicherweise auch mitgewirkt, als Blatts Eltern und dessen kleiner Bruder aus dem jüdischen Ort Izbica in den Gaskammern starben. Der schmächtige 15- jährige Thomas Toivi Blatt wurde für den Arbeitsdienst ausgewählt und zählte zu den etwa 50 Überlebenden, denen nach einem Aufstand im Oktober 1943 die Flucht gelang. Blatt will in einem Prozess gegen Demjanjuk als Nebenkläger auftreten. Er ist von dessen Schuld überzeugt. "Er war ein Treiber in der Todesmaschinerie ", sagt Blatt, der vor seiner Heimreise in der Kanzlei seines Münchner Anwalts Stefan Schünemann unermüdlich Interviews gibt.

Demjanjuk sitzt in München Stadelheim in Untersuchungshaft.

Demjanjuk sitzt in München Stadelheim in Untersuchungshaft.

(Foto: picture-alliance/ dpa)

Demjanjuk sitzt in München Stadelheim in Untersuchungshaft."Er war in Sobibor - damit war er ein Mörder, ohne Frage. Vielleicht hat er nicht mit seiner Hand gemordet, aber er hat die Leute in die Gaskammern getrieben", sagt Blatt in einer Mischung aus Deutsch und Englisch. "Ein Wachmann in Auschwitz, in den KZ, war möglicherweise nur ein Wachmann. Aber ein Wachmann in einem Vernichtungslager war ein Mörder." Er selbst habe die Gaskammern nicht gesehen. "Aber ich habe es gehört." Das Schreien der sterbenden Menschen habe jedes Mal bis zu 20 Minuten gedauert.

Haftstrafe nicht entscheidend

Nach seiner Flucht aus Sobibor entging der jüdische Junge noch einmal knapp dem Tod. Ein Bauer schoss auf ihn, die Kugel steckt bis heute in seinem Kiefer. "Ich glaube, mein starker Wille hat mir geholfen: Damals habe ich gebetet und geschworen, die Geschichte zu erzählen, wenn ich nur überlebe." Sobibor wurde zentraler Punkt seines Lebens. Blatt veröffentlicht Publikationen, hält weltweit Vorträge zum Holocaust. Als einer der Ersten stellte er sich der Begegnung mit einem Täter: Im Gespräch mit dem SS-Aufseher aus Sobibor, Karl Frenzel, versuchte er die Motive für die Tötungsmaschinerie aufzudecken. Der mögliche Prozess gegen Demjanjuk ist für ihn erneut Meilenstein und Chance in seinem jahrzehntelangen Kampf um Aufklärung.

Demjanjuk müsse sich der Wahrheit stellen, sagt er. "Für mich ist seine Aussage wichtig." Eine Haftstrafe sei nicht das Entscheidende - Demjanjuk verdiene sogar Gnade, wenn er die Wahrheit sage. "Demjanjuk ist vielleicht der letzte NS-Verbrecher, der vor Gericht gestellt wird." Blatt räumt ein, er könne sich nicht an Demjanjuk persönlich erinnern. "Ich kann mich nicht einmal an die Gesichter meiner Angehörigen, meiner Mutter und meines Vaters erinnern", betont er unter Verweis auf die vergangene lange Zeit. "Aber Demjanjuk war zur selben Zeit da wie ich."

Ohne die 100 bis 150 ukrainischen Handlanger wäre der Mord an 250.000 Juden in dem Lager nicht möglich gewesen. Meist seien nur 15 deutsche SS-Leute dagewesen. "Ohne die Wachmänner hätte ganz Sobibor nicht funktioniert. Sie hatten blutige Stiefel." Sie seien nicht gezwungen gewesen, Menschen zu misshandeln. Es habe einen einzigen Wachmann namens Klatt gegeben, der nicht geschlagen und malträtiert habe. "Er hat geweint, manchmal, wenn er sich mit uns geheim getroffen hat." Von fünf Millionen Rotarmisten in deutscher Gefangenschaft hätten die meisten nicht kollaboriert. Viele seien gestorben, räumt Blatt ein. "Demjanjuk hat sein Leben retten wollen - aber er musste kein Sadist sein. Er musste nicht schlagen, schießen." Demjanjuk sei auch nicht weggelaufen, sondern sei bis zum Schluss dabeigeblieben.

Quelle: ntv.de, dpa

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen