Zwischenruf Die Zukunft der NATO
11.11.2008, 14:26 UhrDie Forderung von Bundeskanzlerin Angela Merkel nach einer strategischen Neuausrichtung der NATO ist mehr als berechtigt. Die Allianz war in den Jahren der Bush-Administration kaum mehr als ein Erfüllungsgehilfe der USA, der zudem immer nur dann gerufen wurde, wenn diese anders nicht mehr konnte. Siehe Afghanistan. Oder den man schlichtweg ignorierte, wenn er - wie im Falle des Irak - nicht wie gewollt funktionierte.
Die Verteidigung der Territorien der Mitgliedsstaaten soll erste Aufgabe bleiben. Es sollte die zentrale Aufgabe bleiben. Dies ist auch in der Charta der Organisation so festgeschrieben. Die von der Regierungschefin angemahnte Sicherung wichtiger internationaler Transportwege ist in dem Maße zu einem Problem geworden, wie die Vereinigten Staaten ihren "Krieg gegen den Terrorismus" immer weiter ausdehnten. Angesichts des offensichtlichen Dilemmas, in das die USA geraten sind, scheint es zunächst angebracht, die Mittel bei der Bekämpfung des Terrorismus zu verändern. Der massive Einsatz konventioneller Streitkräfte hat in Afghanistan nur zu einem Wiedererstarken von Taliban & Co. geführt. Gleiches gilt sinngemäß für Pakistan. Der Irak wurde erst nach dem Einmarsch der US-geführten Truppen zu einem Tummelplatz von Terrorgruppen. Die Welt ist durch den "Anti-Terror-Krieg" unsicherer geworden.
Immer neue zivile Tote
Eine Untersuchung der ebenso renommierten wie pazifistischer Gedanken unverdächtigen RAND Corporation in den USA zeigt, dass zwischen 1968 und 2006 die Probleme mit 268 Terrorgruppen nur zu sieben Prozent durch den Einsatz konventioneller Armeen gelöst wurden. 43 Prozent einigten sich mit den von ihnen bedrohten Regierungen auf dem Verhandlungswege, 40 Prozent wurden durch Polizei und Geheimdienste ausgeschaltet. Ebenda muss die NATO ansetzen und nicht, wie vom designierten US-Präsidenten Barack Obama angestrebt, durch eine weitere Aufstockung der Truppen am Hindukusch. Merkel tat gut daran, dem künftigen neuen Mann im Weißen Haus klarzumachen, dass Deutschland sein Kontingent nicht noch weiter vergrößern will.
Aber auch die Verknüpfung von ziviler Aufbauarbeit, militärischer Sicherung durch die ISAF-Kräfte und der offensive Militäreinsatz im Rahmen der Operation "Enduring Freedom" steckt in einer Sackgasse. Im Lichte immer neuer ziviler Toter und getöteter Regierungssoldaten durch so genanntes "friendly fire" vermischen sich die drei Elemente in der Wahrnehmung einer wachsenden Zahl von Afghanen. So bitter und schlimm es sein mag: Eine Lösung ist nur auf dem Verhandlungswege mit den gemäßigten Taliban möglich. Die wie im Irak auch in Afghanistan immer mehr als von außen ins Land getragener Terrorismus empfundene Al-Qaida kann - bittschön - auf polizeilichem und geheimdienstlichem Wege ausgeschaltet werden. Vielleicht genügt es aber auch, die Bande von ihren Noch-Verbündeten bei den Taliban zu isolieren.
Multipolarität als Chance
Wenn nun internationale Handelsrouten auf dem Lande, zur See und in der Luft gegen die terroristische Bedrohungen militärisch gesichert werden müssen, kann dies nur allianzübergreifend geschehen. Jeglicher Alleingang wird von Drittstaaten wie Russland, China und anderen als Herausforderung empfunden. Dies trifft auch auf die so genannten "failed states" oder "zerfallenen Staaten" zu. Die Islamisten in Somalia sind durch den US-beschirmten Stellvertreterkrieg Äthiopiens keineswegs ausgeschaltet. Das Piratentum am Horn von Afrika hat Ausmaße angenommen wie zu Zeiten von Sir Francis Drake. Kongo-Kinshasa steht nach der nutzlosen EU-Militäraktion aus Anlass der Wahlen vor zwei Jahren abermals vor einem landesweiten Bürgerkrieg. Mit der Feststellung, dass Russland und der Westen einander brauchen, hat Merkel eine Goldene Brücke gebaut, über die das Gespann Medwedew/Putin auch in dieser Frage getrost gehen kann.
Eine NATO, die die Multipolarität im sechzigsten Jahr ihres Bestehens als Chance zum Frieden begreift, hätte die Zeichen der Zeit verstanden. Es wäre fatal, der Bushschen Unipolarität auf dem Jubiläumsgipfel Anfang April nächsten Jahres bloß ein atlantisch-kollektives Mäntelchen umzuhängen.
Quelle: ntv.de