Der Kommentar Flucht in die Vision
01.12.2008, 17:01 UhrIn der Führung der CDU klafft eine riesige Lücke. Friedrich Merz ließ erkennen, wie groß die Lücke ist, die er mit seinem Abmarsch in die innere Emigration der Partei hinterlassen hat. In seiner Rede auf dem Stuttgarter Parteitag kritisierte er die Kanzlerin nicht, die erst am Vorabend des Parteitages mit einem Machtwort den Vorstand auf ihren vorsichtigen bis zögernden Kurs in der Finanzkrise verpflichtet hatte. Merz stimmte der Kanzlerin sogar ausdrücklich zu, dass es keinen Spielraum gebe für kurzfristige Steuersenkungen, wie sie von Wirtschaftsverbänden gefordert werden und von prominenten CDU-Politikern vor diesem Parteitag gefordert worden sind.
Aber sein Urteil war eindeutig: unzulänglich. Sein Hinweis auf den Leipziger Parteitag war vielleicht aber doch eine bewusste Spitze gegen Angela Merkel. Dort hatte die CDU nämlich unter ihrem Vorsitz beschlossen, was Merz hier und heute forderte, den Abbau der kalten Progression, die den Beschäftigten einen immer größeren Teil von ihren Lohnerhöhungen wegnimmt, den Staat zum "steuerpolitischen Trittbrettfahrer" macht. Es gibt niemanden in der Union, der wie Merz die Wirtschaftspolitik der CDU oder das, was jetzt ihre Wirtschaftspolitik sein könnte, mit geradezu kristalliner Klarheit vertreten kann. Dass Angela Merkel diese Lücke seit dem Rückzug von Merz nicht schließen konnte, ist eine der ärgsten Schwächen der Union.
Sie will ja die Beseitigung der kalten Progression. Der Leitantrag für den Parteitag sieht dies auch vor. Aber erst für die kommende Legislaturperiode als Schlager für den Wahlkampf. Dafür wird dieser Antrag die inhaltliche Grundlage sein. Bis dahin bleibt die Kanzlerin auf ihrem Kurs und damit irgendwie im Ungefähren. Wird sie schon im Januar tatsächlich besser überblicken können, ob die eingeleiteten Maßnahmen zur Bewältigung der Krise Erfolg versprechen? Am 5. Januar will die Koalitionsrunde darüber beraten, und die Kanzlerin hält sich "alle Optionen" offen. Auch den Abbau der kalten Progression schon jetzt? Die Kritiker werden ruhig gesellt mit der ungewissen Aussicht darauf, dass noch geschehen kann, was ihrer Meinung nach schon geschehen, mindestens von der CDU gefordert werden sollte.
Rechenschaftsvortrag statt Mobilisierungsrede
Angela Merkel hielt einen Rechenschaftsvortrag, keine Mobilisierungsrede, ergänzt mit der Vision einer weltweiten sozialen Marktwirtschaft, einer menschlichen Weltwirtschaftsordnung unter der Aufsicht eines Weltwirtschaftsrates der UNO mit Regeln, die Krisen bewältigen und Exzesse eindämmen. Es war eine sympathische Vision, aber zu visionär, um viel Beifall auszulösen bei Delegierten, die im Augenblick sehr heimische Sorgen plagen. Bezeichnend dafür war, dass Angela Merkel den längsten Beifall bekam, als sie von der Rolle der Kanzlerin in die der Wahlkämpferin wechselte und ihren Koalitionspartner attackierte.
Die Messlatte lag hoch. Mit 93,06 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen war Angela Merkel vor zwei Jahren in Dresden als Vorsitzende bestätigt worden. In Stuttgart schnitt sie noch ein wenig besser ab. Die Delegierten haben sie in ihrem präsidialen Führungsstil gestärkt, und das ist für sie das entscheidende Ergebnis. Ein wenig erstaunlich ist es schon nach der Kritik, die in der Union und an der Politik zur Krisenbewältigung geübt worden ist die wieder geübt werden wird, wenn diese Politik nicht bald Ergebnisse zeitigt. Im Vorfeld eines Jahres mit Bundestags- und Europawahl und vier Landtagswahlen präsentiert sich die CDU geschlossener als sie ist. Und neben Angela Merkel gibt es ohnehin niemanden in der CDU, auch nicht für die Wirtschaftspolitik.
Ihm macht keiner etwas vor: Volker Jacobs berichtet seit 40 Jahren zunächst über die Bonner, nun die Berliner Republik. Für n-tv.de kommentiert er die Kämpfe um Macht und Einfluss.
Quelle: ntv.de