Lehren aus dem Corona-Gipfel Hilft nur noch die Angst?
15.10.2020, 16:21 Uhr
Kanzlerin und Länderchefs erzielten ein paar Einigungen. Es gab allerdings auch viel Streit über den richtigen Weg aus der Corona-Krise.
(Foto: picture alliance/dpa)
Das gestrige Treffen der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten wurde vorab "historisch" genannt. Das hätte man besser gelassen. Kanzlerin Merkel ist bei der stundenlangen Verhandlung an ihre Grenzen gestoßen. Was nun folgt, kann höchstens historisch schlimm werden.
Politiker gestehen ein, dass sie nicht gewonnen haben? Politiker, die an ihren eigenen Beschlüssen zweifeln? Beides ist extrem selten. Aber gestern und heute so geschehen.
Die Kanzlerin warnt vor "Unheil" und ist sichtlich angefressen, dass sich ihre härtere Linie nicht durchgesetzt hat in der Runde mit den Ministerpräsidenten. Ihr wichtigster Verbündeter, Markus Söder aus Bayern, hadert ebenso öffentlich mit dem Ergebnis und fragt mit einem für ihn ungewöhnlichen Maß an Selbstzweifel: "Ob das wohl reicht?"
Historisch wurde das Treffen der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsidenten vorab genannt. Mal ehrlich: Das hätte man besser gelassen. Die Runde hat nicht Geschichte geschrieben. Sie hat mühsam die Fassade gewahrt. Und sie wird sich demnächst wiedersehen zum Rückspiel zwischen Hardlinern und denen, die mit weiteren Corona-Einschränkungen aus politischen Gründen lieber zögern möchten.
Diese Lagerbildung ist wichtiger als der Streit um das Beherbergungsverbot, das die Gerichte in mehreren Bundesländern nun kippen. Darüber hätte man sich zerstreiten müssen. Die hohen Infektionszahlen kommen nicht aus den Hotels an der Küste, sondern aus den privaten Feiern überall.
Wenn die Kanzlerin es zynisch betrachtet, kann sie warten. Gestern ist sie an ihre Grenzen gestoßen, aber die Zeit spielt für sie, weil die Infektionszahlen weiter rasant steigen. Sie sind in der nominalen Höhe zwar nicht direkt vergleichbar mit den Zahlen im März oder April. Aber in der Bevölkerung erhöhen sie dennoch den Druck - und in den Niederlanden kam der Lockdown gerade wegen des Drucks der Bevölkerung zustande.
Den Bürgern reinen Wein einschenken
Wahr ist aber auch: Aus Sicht der Virus-Bekämpfung läuft die Zeit gegen die Kanzlerin. Die Infektionszahlen steigen rasant. Aber die Mittel, das in den Griff zu kriegen, sind bald ausgereizt. Bei Maskenpflicht, Feiern und Sperrstunden werden die Regeln jetzt bundeseinheitlich weiter verschärft, gut so. Die Trendwende bei der Ausbreitung des Virus wird das allein nicht bringen.
Diese Trendwende zum Besseren gibt es nur, wenn sich alle - wirklich alle im Land - an die Regeln auch halten. Das ist bislang nicht der Fall, weiß der Himmel, warum. An Vernunft und Einsicht der Bürger haben Regierungen und Behörden zwar schon oft appelliert, aber bestimmte Gruppen trotzdem nicht erreicht. Wie also weiter? Nachbarn sollen nicht wahllos einander denunzieren, und die Polizei soll ja nicht an jeder Wohnungstür auf Verdacht klopfen dürfen. Deutschland ist kein Überwachungsstaat.
Was viele noch nicht begriffen haben: Die Politiker können Hundert Mal sagen, dass sie keinen zweiten Lockdown wollen. Aber das ist ganz schnell nichts mehr wert.
Es wird darum Zeit, dass die Bundesregierung den Bürgern reinen Wein einschenkt: Wenn die Zahlen immer weiter steigen und das Virus in den großen Städten wie auf dem flachen Land grassiert - dann ist ein bundesweiter Lockdown an Weihnachten sehr wohl möglich. Vielleicht bringt die Angst davor all jene endlich zur Vernunft, die gerade auf die Regeln pfeifen. Denn die Folgen einer Vollbremsung des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens wären dann wirklich historisch. Historisch schlimm.
Quelle: ntv.de