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Kontaktbeschränkungen aufheben? Warum Ramelow mit seinem Vorstoß recht hat

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Ramelow muss für seinen Vorstoß viel Kritik einstecken.

(Foto: picture alliance/dpa)

Thüringen will in Kürze generelle Kontaktbeschränkungen aufheben. Ein Ansatz, für den Linke-Ministerpräsident Ramelow viel Kritik einstecken muss. In einem Punkt hat er aber recht: Der Ausnahmezustand muss auch einmal enden, wenn er kein Regelzustand werden soll.

Thüringen könnte ab 6. Juni die allgemeinen Corona-Schutzvorschriften aufheben. Sachsen will dies ebenfalls tun, weitere Länder dürften folgen. Es wäre das Ende der seit 22. März geltenden bundesweiten Kontaktbeschränkungen, die de facto locker gehandhabte Ausgangssperren sind. Jener nicht einmal mehr zwei Wochen hin liegende Samstag markiert damit ein historisches Datum in der so kurzen wie dramatischen Geschichte der Corona-Pandemie. Die von Politikern oft genannte neue Corona-Normalität wird dann endlich Realität - zumindest mancherorts.

Das mag aus Sicht von Virologen, Epidemiologen und anderen Gesundheitsexperten zu früh sein. Gesellschaftlich ist es aber richtig so, politisch sogar unvermeidlich. Der Ausnahmezustand muss irgendwann enden, und zwar nicht erst dann, wenn alle Risiken erneuter Ausbrüche gänzlich ausgeschlossen sind. Wer so argumentieren würde, öffnete einer dauerhaften Einschränkung maßgeblicher Grundrechte Tür und Tor. Niemand weiß mit Sicherheit, ob eine Infektion oder zuverlässige Therapie zeitnah zur Verfügung stehen wird, weshalb diese abzuwarten keine Option ist. Zudem wäre ein derartiges Sicherheitsdenken der Risikogesellschaft, in der wir leben, weder angemessen noch einer Mehrheit vermittelbar.

Ramelow will in den "Regelbetrieb"

Die neue Corona-Normalität einzuläuten bedeutet, das nächste Kapitel eines Buchs mit unbekanntem Ausgang aufzuschlagen. Das verlangt den Mut zur Ungewissheit. Es wäre ein Ende des Ausnahmezustands, ohne in den (immer weniger) gewohnten Alltag zurückzukehren. Das bedeutet: Erfolge im Kampf gegen die Pandemie wertzuschätzen, indem das Erreichte durch Achtsamkeit, Eigenverantwortung und eine gleichermaßen aufmerksame wie reaktionsschnelle Politik bewahrt wird.

"Raus aus dem Krisenmodus, rein in den Regelbetrieb", fasst Ramelow im Gespräch mit ntv zusammen, was er am Wochenende in einem vielbeachteten Blogeintrag ausgeführt hat. Der nun viel kritisierte Linke-Politiker hat dabei weder die Pandemie für beendet und das Infektionsrisiko für gering erklärt, noch schließt er eine Rückkehr zu den radikalen Maßnahmen der vergangenen Wochen aus. Sie waren im Großen und Ganzen richtig. Sie könnten erneut notwendig werden. Umso wichtiger ist es, dass sich der Staat die bisherige Zustimmung einer breiten Mehrheit zu seinem Kurs bewahrt, indem er bei schwerwiegenden Grundrechtseingriffen Maß hält.

Es kann schnell wieder zurückgehen

Das Infektionsgeschehen ist fast überall in Deutschland wenn nicht unter vollständiger Kontrolle, so doch überschaubar. Es ist sinnvoll, dass Länder und Kommunen zunehmend situativ entscheiden. Der Gestaltungsanspruch des Bundes erschließt sich angesichts einer örtlich derart differenzierten Lage immer weniger. Einheitlichkeit der Regeln ist kein Selbstzweck. Das hindert den Bund nicht daran, beratend und unterstützend zur Seite zu stehen. Und das hindert andersherum Landespolitiker nicht daran, sich mit Bund und Ländern abzusprechen, anstatt durch einseitig kommunizierte Schritte alle anderen unter Druck zu setzen.

Wenn nötig, da lässt auch Ramelow keinen Zweifel, müssen die Behörden künftig sogar schneller und drastischer das öffentliche Leben einschränken, als es zu Beginn der Coronakrise in Deutschland der Fall war. Nur so können Ausbrüche lokal begrenzt bleiben. Aber überall anders sollten sich Einschränkungen nach Möglichkeit nur auf das individuell Zumutbare beschränken: Hygieneregeln und Maskenpflicht sowie Vermeiden dichtgedrängter Menschenansammlungen in Einzelhandel und Gastronomie. Das Abstandsgebot kann im Alltag ohnehin nur durch gute Argumente, nicht durch die Androhung von Ordnungswidrigkeiten durchgesetzt werden.

Empfehlungen statt Verbote

Das Ausgehen und Treffen mit Verwandten, Freunden und Bekannten aber muss als wesentliche Grundfreiheit prinzipiell genauso gestattet sein wie politische Versammlungen. Der Virologe Christian Drosten hat aufgezeigt, wie durch systematisches Testen der Betreuungspersonen auch die vollständige Öffnung von Schulen und Kindertagesstätten gelingen kann. Die prinzipielle Wiederherstellung der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Anspruch auf Bildung und Kinderbetreuung sind essenziell, um den Kern unseres Zusammenlebens zu erhalten (Dass diese beiden Ansprüche höchstens indirekt im Grundgesetz geschützt werden, passt zu einer Gesellschaft, in der viele Eltern in den vergangenen Monaten ihre Bedürfnisse nicht genug beachtet sahen.). In der Corona-Normalität muss jedwede Einschränkung im Einzelfall begründet werden. Das hindert Gesundheitsämter und Behörden nicht daran, sinnvolle Auflagen zu machen.

Ramelows Gegner in Bund und Ländern fürchten, von seinem Ansatz ginge das falsche Signal "Alles geht wieder" aus. Die Bundesregierung will die Kontaktbeschränkungen grundsätzlich über den 5. Juni hinaus fortführen, sie aber im Gegenzug deutlich lockern. Bis zu zehn Angehörige zweier Haushalte sollen sich in geschlossenen Räumen unter Aufrechterhaltung der Abstandsregeln und bei geöffnetem Fenster treffen dürfen. Treffen von zehn Menschen sollen in der Öffentlichkeit erlaubt sein. Ramelow und seine Verbündeten wollen solch umsichtige Verhaltensweise nur empfehlen, aber Zuwiderhandlungen nicht länger unter Strafe stellen.

Das ist richtig so. Solche verbindlichen Regeln, von denen jeder weiß, dass sie weder zu kontrollieren noch mit Gewalt durchzusetzen sind, zeigen ein tiefes Misstrauen in die Vernunftbegabung der Bevölkerung. Der durch die Kontaktbeschränkungen hergestellte Corona-Ausnahmezustand aber war ausschließlich deshalb erfolgreich, weil die Bevölkerungsmehrheit Vertrauen in das verantwortungsvolle Handeln der Politik hatte. In der unweigerlich einmal beginnen müssenden Corona-Normalität verhält es sich genau andersherum: Die Regierung muss Vertrauen fassen in das Verantwortungsbewusstsein der Bevölkerung. Dieses Vertrauen hat sie sich in den vergangenen zwei Monaten redlich verdient.

Quelle: ntv.de

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