
Der Unvereinbare auf dem Kopf und im Gesicht: ein Trump-Anhänger mit Woke-Mütze und "Make America Great Again"-Halstuch.
(Foto: AP)
Gendern, Identitätspolitik, Klima: Es gibt Themen, die führen zu unerbittlichem Streit zwischen Reaktionären und Avantgardisten. Dieser Woke-Krieg ergreift den halben Globus. Aber man kann sich heraushalten - mit Helmut Schmidt.
Vielleicht führt ein gendergerechtes Klohäuschen den Machtwechsel in Berlin herbei. "Bääm, da ist das Ding", hatte sich die Grünen-Politikerin und Bezirksbürgermeisterin Clara Herrmann gefreut, über ein identitätspolitisch korrektes Scheißhäuschen auf dem "Kotti", einem Berliner Brennpunkt, den womöglich Dringlicheres plagt als Klomangel. Ein "Pissoir" und ein "Missoir" standen da nun, und wenig verkörperte die Versponnenheit der Grünen so sehr wie die Freude über diese werbetextbemalten Bretterbuden. Nun findet in Berlin eine Große Koalition zueinander und womöglich droht der Stadt das Unvorstellbare: Sachpolitik.
Zahlreich sind die Bekenntnisse eigentlich Progressiver in der Hauptstadt, die angesichts der ideologieschäumenden Politik des Berliner Senats ihr Kreuz bei den Konservativen gemacht haben. Ist Berlin ein Signal? Verliert eine wachsende Mehrheit schlicht die Lust auf Ideologiekrämpfe jeder Art?
Viele Wähler wollten angesichts der Gegenwartsaufgaben keine inbrünstigen Kämpfe für die Klobedürfnisse winziger Minderheiten, aber auch nicht benzinschwitzenden Beharrungsfanatismus. Die Berliner haben nämlich Rot-Grün-Rot abgewählt, sich aber auch nicht mit dem Autofetisch der FDP anfreunden können. Deren Berliner Spitzenkandidat erregte sich über die geradezu mystisch aufgeladene Beruhigung der Friedrichstraße, schleppte dafür Straßensperren ab und demonstrierte für die, ja wirklich, "Freedrichstraße". Zur Belohnung flog die FDP aus dem Abgeordnetenhaus.
Warnsignal für die FDP
Für die Liberalen sollte das ein Warnsignal sein: Wer bei 5 Prozent steht, kann keine Spaltung riskieren. Doch die FDP ist auf dem Weg dorthin. Sagenhafte 26 Prozent der liberalen Wähler würden eine Wagenknecht-Partei wählen, ermittelte gerade eine Umfrage. Und wann immer Wolfgang Kubicki in den Medien auftritt, kann man in Berlin Rupfgeräusche hören - es sind die progressiven Liberalen, die sich die Haare raufen. Currywurst-Politik passt schlecht zu einer Fortschrittspartei. Ist es wirklich "German Mut", wenn man sich mit "E-Fuels" für die Verbrenner verkämpft?
Man kann es in Sachen Kulturkampf durchaus übertreiben, das demonstriert keine Nation so schrill wie die Vereinigten Staaten. "Wir bekämpfen die Woken in der Legislative. Wir bekämpfen die Woken in den Schulen. Wir bekämpfen die Woken in den Konzernen. Wir werden niemals vor dem woken Mob kapitulieren." Das sagte Ron DeSantis, Governeur von Florida und womöglich der nächste US-Präsident. Es klingt nach Krieg, und das ist kein Zufall.
Manchen scheint die Aggression Russlands auf einer Ebene mit Woken zu liegen - oder sind letztere sogar schlimmer? Der Foxnews-Wüterich Tucker Carlson etwa fragte einmal, den Russen relativierend: "Hat Putin mich jemals einen Rassisten genannt? Hat er damit gedroht, dass ich gefeuert werde, weil ich anderer Meinung bin als er?"
Homophobie als Kriegsgrund
Kriegsherr Wladimir Putin wiederum bekam bei seiner matten Rede größten Applaus an anti-woker Stelle: Nicht etwa, als es um Sozialthemen Russlands oder die angeblichen Nazis in der Ukraine ging - sondern als der russische Blutpräsident betonte, die Ehe sei eine Angelegenheit zwischen Mann und Frau und das werde man auch gegen den Westen verteidigen. Geht es also darum? Hat der Russe Angst, dass der progressive Westen Leopard 2-Panzer schickt, um im Deckmantel der NATO-Erweiterung das frühere Zarenreich zu verschwulen?
Der Kampf gegen Woke kennt eben keine Grenzen, aber er ist nicht immer erfolgreich. DeSantis hat sogar "ESG" zum Politikum erklärt, also neue Kriterien für Investitionen - es geht um Umwelt, Soziales und gute Unternehmensführung. Jetzt fliegt ihm der Schritt um die Ohren: Die Banken verbitten sich, dass die Politik ihnen in die Bewertung hineinquatscht. ESG kann nämlich bei allem Woke-Verdacht zu etwas führen, was Banken sehr mögen: Geld. Sie argumentieren, "dass es finanziell sinnvoll ist, Klimarisiken und andere gesellschaftliche Belange in Investitionsstrategien zu berücksichtigen", berichtet die "Washington Post".
Auch im schottischen Wahlkampf flog den Konservativen der Anti-Woke-Kurs um die Ohren, weil die Kandidatin der konservativen Nationalpartei auf einmal die "Ehe für alle" bereut - und damit offenbar selbst den eigenen Leuten zu weit geht. Damit könne man nicht einmal mehr in einer konservativen Partei punkten, rügte sie der frühere Tory-Chef William Hague, ein Konservativer. Eine Umfrage zeigt nun, was den Leuten wichtig ist: 5 Prozent nannten Religion und persönlichen Glauben, den meisten waren Lebenshaltungskosten am wichtigsten.
Der Woke-Krieg führt zu Verwüstung
Der kulturkämpferische Kurs von CDU und CSU (und Teilen der FDP) ist auch vor diesem Hintergrund schwierig. Die CDU genießt nämlich gerade einen kontinuierlichen Aufwind, allerdings nicht wegen der muffigen Attitüde ihres obersten Kulturkämpfers - Merz’ Werte steigen nämlich nicht mit. Der Grund für die Lust auf Schwarz ist ein anderer: Die Leute trauen den großen Parteien schlicht mehr zu, mutmaßte kürzlich der INSA-Chef bei der "Bild"-Zeitung.
Der Woke-Krieg führt also nicht weiter. Es ist Zeit zum Drüberstehen - mehr Helmut Schmidt wagen! "Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen" soll er gesagt haben, jedenfalls lieben viele dieses Zitat und die vernunftgrummelnde Art des Hanseaten. In Fernsehstudios rumrauchen und trotzdem ganz leicht links der Mitte stehen, aber, ganz wichtig, ohne Schickimicki - Schmidt hätte niemals ein Frauenklo am Kotti beklatscht.
Eine, die Helmut Schmidt recht gut beherrscht, ist Ricarda Lang. Die Grünen-Co-Chefin macht einen Bogen um schrille Woke-Themen und fährt damit gut. Sie hätte sich als Kämpferin gegen Bodyshaming inszenieren können, als sie zu Beginn immer wieder wegen ihrer Leibesfülle attackiert wurde - sie entschied sich dagegen. Auch heute, da gerade darüber gestritten wird, ob in alten Kinderbüchern eine Figur "enorm fett" genannt werden darf, schweigt sie. Sie raucht nicht in Studios, aber sie erlaubt sich Konfetti.
Wie man den Woke-Krieg verweigert
Die Woke-Kriegs-Verweigerung ist eigentlich nicht schwer. Erstens: Man verzichte auf reflexhafte Attacken. "Feministische Außenpolitik" etwa klingt lustig, wenn man nichts darüber weiß, ist sie aber nicht. Wohin Männerdemokratien führen, kann man ja in Afghanistan begutachten. Zweitens: Nicht jede Befindlichkeit zum Gesellschaftsproblem aufplustern. Die Zukunft hängt weder an der "Freedrichstraße" noch an gendergerechten Toilettenhäuschen.
Drittens: Zurück zur Sache! Diskutieren wir die wirklich wichtigen Themen - zum Beispiel Wohnungsbau, Fachkräftemangel, Staatsfinanzen, Integration, Altersvorsorge und Pflege. Das Publikum, Sie also, werte Leserinnen und Leser, kann das mitbestimmen. Nicht jede anti-woke Pointe muss beklatscht werden. Und nicht jeder Einwand gegen Klimamaßnahmen oder Identitätspolitik ist reaktionär.
Kai Wegner, voraussichtlicher Bürgermeister der Hauptstadt, sagte es so: "Berlin soll Berlin bleiben, aber funktionieren". Kein schlechtes Motto.
Quelle: ntv.de