Politik mit Polarisationsbrille Was macht eigentlich … die "politische Mitte"?


Angela Merkel hatte "die Mitte" einfach komplett für ihre Partei in Beschlag genommen - allerdings auf Kosten der Kontraste.
(Foto: picture alliance / Kay Nietfeld/dpa)
In den USA tritt eine identitätspolitische Traumfrau gegen Donald Trump an und in der CDU gehen Merkelianer von Bord: Im Sommer 2024 schmilzt die politische Mitte.
Wenn mir dieser Tage der Himmel nicht blau, die Wolken nicht weiß und die Bäume nicht grün genug sind, setze ich einfach meine Sonnenbrille auf. Da sind Polarisationsgläser drin und diese Polarisation wirkt Wunder, auch in der Fotografie. Dreht man das Polarisationsglas ein wenig, reduziert sich die Reflexion, dadurch ballern die Farben, auch wenn man dann in einer etwas unrealistischen Welt spaziert.
In der Politik ist das ähnlich: Mehr Polarisation verstärkt die Kontraste, führt aber auch zu weniger Reflexion. Wir sehen das mit lautem Knall in den Vereinigten Staaten, und im Schatten der Sommerpause auch in der CDU. Jede Hoffnung auf einen Debattenklimawandel können wir uns schenken - auch wenn dann alles so schön bunt ist.
Kamala Harris ist zwar Ex-Staatsanwältin, aber sie lacht zu laut - so läuft die Debatte da drüben gerade, warum auch immer das Lachen ein Problem ist, wenn die Alternative Damen ins Geschlecht zu greifen beliebt ("grab 'em by the pussy", wie Trump das formulierte). Noch wissen wir wenig über die Kampagne der Vizepräsidentin, aber alle Zeichen stehen auf einen polarisierenden Wahlkampf: Harris ist eine identitätspolitische Traumfrau und deshalb ein leichtes Ziel für Donald Trump und seine Leute.
"Kommala" darf zu "Freedom" tanzen
Kurz nachdem Joe Biden zittrig das Handtuch warf, flutete eine Social-Media-Welle das Internet: Kamala tanzt, Kamala lacht, Kamala erzählt von der Kokosnuss - und bekommt schon ein eigenes Emoji! Toll! In halsbrecherischer Geschwindigkeit werden Videos gebastelt: Kamala, die Staatsanwältin, als Gegenentwurf für den verurteilten Kriminellen Donald Trump, Kamala, die für "Freedom" wirbt und dafür einen Song von Beyoncé nutzen darf, Kamala, die indische und jamaikanische Wurzeln hat, Kamala, die man bitte "Kommala" ausspricht.
Harris' Politik dürfte tatsächlich "liberaler" ausfallen als Bidens, "liberal" im amerikanischen Sinne, also grob gesagt: linker. Ihre Hauptbotschaft ist derzeit "Freedom" zur Abtreibung. Kaum ein Thema spaltet Amerika so sehr wie dieses, seit der konservativ umgebaute Supreme Court das Recht auf Abtreibung auf Bundesebene gekippt hat ("Roe v. Wade"). Es eignet sich gut zur Abgrenzung: Trumps Vize J.D. Vance hat kürzlich kinderlosen "Katzenladys" das Wahlrecht abgesprochen, was selbst unter Republikanern zu Stirnrunzeln führen könnte, wenn man sich das öffentliche Runzeln denn noch traute.
Ebenfalls identitätspolitisch aufgeladen ist das Thema Israel: Die Vizepräsidentin war in Sachen Nahost bislang erstaunlich unartikuliert, vermutlich wird sie aber zur recht festen Solidarität Bidens eher auf Distanz gehen. Für die Migrationspolitik, ein weiteres Mega-Thema, steht sie schon jetzt im Visier der Republikaner. Sie rief Migranten zwar einmal zu: "Kommt nicht hierher!", aber geholfen hat es nicht: Die Zuwanderung steigt und beschäftigt immer mehr Amerikaner, lagerübergreifend.
Zeiten des freundlichen Streits sind vorbei
Sollte Harris bei einem der linken Themen ins Wackeln geraten, dürfte sie Erinnerungen aus den eigenen Reihen erhalten: Im dramatischen Moment der Staffelübergabe hat selbst die äußerst linke Demokratin Alexandria Ocasio-Cortez ihre Unterstützung für Harris bekannt gegeben - und sie wird daran erinnern, wenn die Zeit gekommen ist.
Die Zeiten freundlichen Streits zwischen den großen Parteien werden drüben nicht so bald zurückkehren. Hier in Deutschland sieht es im Juli 2024 nicht viel besser aus, aber die Symptome sind dezenter - und zeigen sich derzeit in der CDU und in der FDP.
Wann immer der CDU-Vorsitzende einen auch nur scheinbaren Flirt mit den Grünen zulässt, etwa, weil die Grünen die CDU-Kommissionspräsidentin empfahlen, greift die Mensch gewordene Polarisationsbrille Wolfgang Kubicki (FDP) ein: "Gute Reise mit den Grünen in den Abgrund", wünschte der frisch auf Elon Musks Plattform X eingestiegene Politiker kürzlich.
Ungrün wie lange nicht
Dabei gibt sich die CDU doch so ungrün wie lange nicht: Kurz vor der Sommerpause feiern gleich vier CDU-Frauen ihren Abschied, die eher nicht dem Merz-Lager angehören - und der "Merkelianer" Hermann Gröhe ebenfalls. Wer nun das Sagen in der CDU zu haben meint und mit welch autoritärer Tonlage, das ließ sich in öffentlichen Kommentaren ablesen: Ganz überwiegend Männer jubelten und ätzten gegen jeden, der oder die diese Entwicklung mit einem Fragezeichen begleiteten - sogar eine Journalistin wurde zurechtgewiesen.
Der frühere CDU-Abgeordnete Heribert Hirte schrieb deshalb vom "deutschen Project2025 in der CDU" und bezog sich damit auf das so bezeichnete Umgestaltungsprogramm sehr rechter republikanischer Vordenker in den USA. Die neue Unionsfraktion verschiebe sich "auch personell immer weiter weg von der Mitte (wo bekanntermaßen Wahlen gewonnen werden)".
Mitte? Welche "Mitte"? Womöglich denkt Hirte an die Nullerjahre, als sich gefühlt alle Parteien zugleich um die Vertretung der "Mitte" bewarben, als Politikwissenschaftler schon mahnten, durch derlei langweiliger Interessensausgleicherei öde man das Wahlvolk vollends an, es müsse schon ein bisschen knallen und krachen.
Die Mitte scheint zu vergilben
Das sind Sorgen von gestern: Die politischen Zentrifugen rotieren hier wie dort immer schneller und die Wähler stehen sich unversöhnlicher gegenüber denn je. Eine Kampagne, die sich um Zustimmung der ganzen Bevölkerung bewirbt, ist weder in den Vereinigten Staaten noch in Deutschland zu erwarten. Die Mitte scheint verschwunden, insofern wäre folgerichtig, wenn man sie auch in der CDU aufgäbe und sich das Türchen zu Robert Habecks Leuten nur noch aus arithmetischem Kalkül offenhielte.
Vielleicht brauchen wir die Polarisation, damit wir mal wieder etwas mehr Kontrast sehen, das Blau, das Weiß, das Grün. Ich hoffe nur, es gelingt irgendwann, diese alberne Knallfarbenbrille wieder abzusetzen.
Quelle: ntv.de