
Huch, waren die wieder lecker. Pogacar schaut sich auf dem Weg zum Plateau de Beille noch einmal um.
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Die Renaissance des Radsports hat viel mit der Netflixisierung der Tour de France zu tun. Doch nicht nur damit. Denn genau zur richtigen Zeit hat der Radsport in Jonas Vingegaard und Remco Evenepoel zwei große Rivalen sowie in Tadej Pogacar einen Fahrer, der sämtliche Rekorde pulverisiert.
Auf der 17. Etappe der Tour de France gab Tadej Pogacar auf. "I'm gone. I'm dead", funkte der Slowene am Anstieg zum Col de la Loze. Jonas Vingegaard hatte attackiert und machte sich auf den Weg zum Gesamtsieg bei der Tour 2023. Als Pogacar an diesem 19. Juli 2023 auf dem Rad "starb", konnte niemand ahnen, wie hart und brutal er zurückschlagen würde.
Ein Jahr später geht er als Giro-Sieger und großer Favorit in die Tour. Sein Rivale Vingegaard hat es gerade so zur Tour geschafft. Ein schwerer Sturz im Frühjahr bringt in komplett aus dem Tritt. Der Däne kämpft sich zurück und kann mithalten. Die Rückstände sind bis weit in die zweite Hälfte der Rundfahrt zumindest überschaubar. Dann kommen die Etappen 14 und 15. Mit einer taktischen Meisterleistung nimmt Pogacar seinem Kontrahenten auf der 14. Etappe 39 Sekunden ab.
Einen Tag später will es Vingegaard wissen. Er testet den Slowenen aus. Immer wieder. Pogacar sitzt hinter ihm. Wartet auf dem Weg zum Plateau de Beille ab. Er lauert. Fünf Kilometer vor dem Ziel geht er kurz aus dem Sattel und fährt los. Vingeaard schaut und kann nichts ausrichten. "War ein unglaublicher Tag", telegraphiert der Slowene aus dem Ziel. "Ich habe gemerkt, dass er doch nicht ganz die Beine hat." Nach dieser Etappe hat Pogacar 3:09 Minuten Vorsprung auf Vingegaard, am Ende der Tour werden es 6:17 Minuten sein. Er fährt nur für sich. Wie die gesamte Saison.
81 Kilometer Solofahrt keine Seltenheit
"Jeder Sieg hat seine eigene Geschichte", sagt Pogacar nachdem er nach seinem Rad bei seinem vierten Sieg in Serie bei der Lombardei-Rundfahrt auf der Ziellinie in die Luft gestemmt hat. Es ist das Ende einer fast 50 Kilometer langen Solofahrt. Der Zweitplatzierte Remco Evenepoel schüttelt den Kopf. "Ein Phänomen fuhr vor mir", sagt der belgische Doppel-Olympiasieger. Was gibt es gegen Phänomene schon auszurichten?
Wieder einmal hat Pogacar an diesem Samstag im Oktober einen Rekord für die Ewigkeit eingestellt. Nur dem legendären Fausto Coppi war dies in den Jahren 1946 bis 1949 gelungen. Es ist die Krönung einer Saison, die in die Geschichtsbücher eingeht. Der 26-Jährige fährt unglaubliche 25 Siege ein.

Das Jahr endet mit einer entspannten Alleinfahrt in der Lombardei.
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Er gewinnt den Giro, die Tour und die WM in einer Saison. Das gelang vor ihm nur Eddy Merckx und Stephen Roche. Den Giro und die Tour in einem Jahr hatte zuletzt der legendäre Marco Pantani 1998 für sich reklamieren können. Aber Pogacar stoppt dort nicht. Er dominiert die Eintagesklassiker. Er gewinnt bei Lüttich-Bastogne-Lüttich und er deklassiert beim Strade Bianchi mit einem epischen Solo-Ritt von 81 Kilometern. Die Konkurrenz kann immer nur zuschauen.
So wie Vingegaard auf der 15. Etappe der diesjährigen Tour. Sie können Wattzahlen treten, die sie noch nie in ihrer Karriere getreten haben und müssen doch erkennen: Es reicht einfach nicht. "Es ist eines der besten Ergebnisse meiner Karriere", sagt der Däne als er ein paar Tage später schniefend und geschlagen den letzten Berg der Tour erklommen hat, wieder einmal von Pogacar im Sprint besiegt. Der Slowene, der nicht Kannibale genannt weren will, hat wieder einmal alle aufgefressen. Und die sind trotzdem glücklich.
Die größte Heldenerzählung der Radsportneuzeit
"Ich muss schauen, wo ich herkomme. Ich habe mir bei meinem Crash fast jeden Knochen im Körper gebrochen, meine Lungen verletzt. Ich bin stolz", sagt Vingegaard: "Ich habe natürlich gehofft, dass er mir den Sieg gibt. Ich wusste, dass ich den Sprint verlieren werde. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ich mache ihm überhaupt keinen Vorwurf. Ich würde das wohl auch machen."
Doch in dieser für den Radsport so unfassbaren Saison kann es eben nur einer machen: Tadej Pogacar, der doch am 19. Juli 2023 eigentlich auf dem Rad gestorben war. Und wie immer im Radsport, seit ihm die Dopingenthüllungen in den 1990er- und 2000er-Jahren die Unschuld geklaut haben, schwingt die Frage mit: Ist der Erfolg sauber? Sind die Bestzeiten am Berg überhaupt möglich? "Ich verstehe die Leute", sagt der Slowene. "Mir ist das egal. Ich weiß, wer ich bin und ich weiß, dass es immer Zweifel geben wird."
Doch natürlich hat sich der Sport seit Lance Armstrong und Jan Ullrich geändert. Es sind andere Zeiten. Die Tour ist populärer denn je. Sie ist Teil der großen Netflixisierung des Sports. Sie hat ihre eigene Show auf der Streaming-Platform und sie hat dort ihre Parallelerzählungen, ihre eigenen Heldenerzählungen. Doch die größte Erzählung ist die des Slowenen, der sich am 14. Juli 2024 auf dem Weg zum Plateau de Beille auch auf dem Weg zu seinem Platz in der ewigen Ruhmeshalle des Radsports macht.
Quelle: ntv.de