Sport

Reich der Widersprüche China im Zwiespalt

Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Mit den meisten Goldmedaillen hat sich China zwar als sportliche Großmacht etabliert, doch trotz der Genugtuung, die Supermacht USA überrundet zu haben, nagen Zweifel an der eigenen Stärke. Nichts verdeutlicht den Zwiespalt des Milliardenvolkes deutlicher als die Trauer um den Nationalhelden Liu Xiang, der verletzt seinen Hürdenlauf abbrechen musste. Mit einer Intensität, die Ausländer kaum nachvollziehen können, hatten sich alle Hoffnungen auf Liu Xiang konzentriert, in der Leichtathletik - der Domäne der Amerikaner und Europäer - eine Medaille zu gewinnen. "Dafür hätte ich lieber in der Gesamtwertung auf den Spitzenplatz verzichtet", sagte sogar ein chinesischer Sport-Experte. "Gerade hier zeigt der Westen seine wahre Stärke."

China ist das Reich der Widersprüche: Einerseits freut sich das Volk, das seit den Demütigungen durch die imperialistischen Mächte im 19. Jahrhundert empfundene Image vom "kranken Mann Asiens" abgeschüttelt zu haben, andererseits traut es seiner neuen Stärke noch nicht. Unbeirrt feiert die kommunistische Führung die 29. Olympischen Spiele als "Meilenstein auf dem Weg der großartigen Wiedererstarkung der chinesischen Nation". In alter kommunistischer Tradition beglückwünscht sich der Gastgeber gleich selbst zu den "erfolgreichen Spielen". Und um jede kritische Aufarbeitung im Keim zu ersticken, wird verkündet: "Wir haben das Vertrauen der Welt erfüllt." Die Welt habe "die richtige Entscheidung" getroffen, China als Austragungsland gewählt zu haben. Dieses Urteil, das China gar nicht zusteht, soll nur die Risse unter der Gold-Politur verdecken.

Unerfüllte Versprechen, keine Partys

Zum Beispiel, dass Versprechen nicht erfüllt wurden. Dass sich die Rechte der Menschen nicht wie versprochen verbessert haben. Oder dass Kontrollwut jede Partystimmung erstickt hat. Zu den Widersprüchen zählt ferner, dass sich das größte Entwicklungsland die bisher teuersten Spiele geleistet hat. Die krasse Armut in China war unter der "olympischen Glocke" nicht zu sehen. Nicht die Bettler oder die billigen Wanderarbeiter, die die tollen Sportstätten gebaut haben. Mit glänzenden Fassaden präsentierte sich die Hauptstadt so schön und sauber wie nie - kein olympisches Erbe, sondern Ausnahmezustand. Nach der Abreise aller Sportler werden die Schlote wieder aufgemacht und die Autos die Luft wieder bis zur Atemlosigkeit verschmutzen.

Es gehört zu den Widersprüchen, dass China trotz Kritik auch Respekt verdient. Die ehrliche Freundlichkeit der 1,5 Millionen Freiwilligen hat dem Land ein neues Gesicht gegeben. Mit einer einzigartigen Mobilisierung aller Kräfte hat China den Sportlern hervorragend organisierte Spiele beschert. So etwas kann nur ein autoritäres System. Für China sei die Organisation auch ein Lehrstück gewesen, findet der chinesische Spitzenathlet Li Ning, der das olympische Feuer im "Vogelnest" entzünden durfte. "Wir haben immer viele gute Ideen, aber wir müssen auch lernen, internationale Vorgehensweisen zu respektieren", zitierte ihn die Zeitung "Caijing".

Leistungen von 2008 einmalig

Auf den Triumph bei den Goldmedaillen folgte der Ruf zur Nüchternheit. "Das beweist nicht, dass unsere Stärke als Land, unser wissenschaftliches Niveau, unsere sportlichen Konzepte oder die gesundheitliche Kraft der Nation die der USA oder Europas übertreffen", warnte das Blatt "Zhongguo Qingnianbao", das Staats- und Parteichef Hu Jintao nahe steht. Niemand dürfe sich dieser "Illusion" hingeben.

Helmut Digel, Council-Mitglied im Leichtathletik-Weltverband, sagt China auch voraus, "in Zukunft wieder Einbrüche zu erleben". Die Volksrepublik habe inzwischen ähnliche Problem wie Deutschland oder andere Länder im Leistungssport. "Der soziale Aufstieg wird nicht mehr lange als Motivation bleiben", erklärte der China-Experte. "China wird auf Dauer zu den drei führenden Sportnationen zählen. Den Erfolg von 2008 wird es jedoch 2012 in London nicht wiederholen können."

Andreas Landwehr, dpa

Quelle: ntv.de

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