Frauen über Missbrauchs-System Das katastrophale Versagen im deutschen Turnen
29.12.2024, 14:52 Uhr
Tabea Alt animierte mit ihrem Weckruf zahlreiche weitere Turnerinnen, sich zu öffnen.
(Foto: dpa)
Leistung bringen mit Knochenbrüchen, mit Hunger wegen angeblichem Übergewicht, mit Medikamentenmissbrauch und Erniedrigungen. All das scheint im deutschen Turnen bei den Frauen keine Ausnahme. Mehrere Ex-Sportlerinnen erheben schwere Vorwürfe. Der Verband bestätigt Hinweise und kündigt Aufklärung an.
Der Deutsche Turner-Bund (DTB) wird erneut von Vorwürfen des Missbrauchs an einem seiner Bundesstützpunkte erschüttert. Die frühere Top-Turnerin Tabea Alt hat in einem Instagram-Post Missstände öffentlich gemacht und diese als "systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch" bezeichnet. Michelle Timm, ebenfalls früheres Mitglied der DTB-Frauenriege, reagierte einen Tag nach Alts Aussagen und berichtete ebenfalls auf Instagram von "katastrophalen Umständen" am Kunstturnforum Stuttgart.
Auch Carina Kröll prangerte Missbrauch an. Die 23-Jährige, die bis 2022 für Deutschland turnte, sagte, sie sei im Alter von 17 Jahren dazu getrieben worden, innerhalb von Wochen fünf bis sechs Kilogramm an Gewicht zu verlieren, um vermeintlich konkurrenzfähig zu bleiben: "Ich war 'angeblich' am Limit. Zum Kontext: Ich war 1,64 Meter groß und wog 54 Kilogramm - ein komplett gesundes Gewicht. Trotzdem wurde ich als zu schwer eingestuft."
Der DTB bestätigte, ihm und dem Schwäbischen Turner-Bund (STB) lägen "konkrete Informationen zu möglichem Fehlverhalten vonseiten verantwortlicher Trainer am Bundesstützpunkt in Stuttgart vor", schrieb der Verband in einer Stellungnahme. Zugleich kündigte er Aufklärung an. Man werde eine Untersuchung einleiten und dafür auch externe Unterstützung hinzuziehen.
"Gegenstand der Untersuchung wird mögliches Fehlverhalten von Trainerinnen und Trainern aber auch Fehler im Leistungssportsystem an Bundesstützpunkten sowie der Umgang mit möglichen Hinweisen innerhalb der Verbandsstrukturen des STB und DTB sein", hieß es in einer gemeinsamen Erklärung. Und weiter: "Bis zur Klärung der Sachlage und zum Schutze aller werden kurzfristige, das Training betreffende Maßnahmen am Stuttgarter Kunstturnforum initiiert."
Nicht der erste Eklat im Turnen der Frauen
Damit rückt das deutsche Frauen-Turnen schon wieder negativ in den Fokus. Ende 2020 hatten Sportlerinnen des Bundesstützpunktes Chemnitz mit der ehemaligen Schwebebalken-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz an der Spitze ihrer damaligen Trainerin Gabriele Frehse schwere Vorwürfe gemacht. Sie soll die Turnerinnen im Training schikaniert, Medikamente ohne ärztliche Verordnung verabreicht und keinen Widerspruch zugelassen haben.
Frehse hatte die Vorwürfe stets bestritten. Dennoch lehnte der DTB eine weitere Zusammenarbeit mit ihr ab. Nach einem gewonnenen Rechtsstreit um ihre Kündigung durch den Olympiastützpunkt Sachsen ist Frehse inzwischen Auswahltrainerin der Frauen in Österreich. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Chemnitz alle Ermittlungen eingestellt.
Nun richtet die ehemalige WM-Dritte Tabea Alt den Blick auf den Bundesstützpunkt Stuttgart. Sie habe mit gebrochenen Knochen turnen müssen, schrieb die heute 24-Jährige. "Es ist kein Einzelfall: Essstörungen, Straftraining, Schmerzmittel, Drohungen und Demütigungen waren an der Tagesordnung. Heute weiß ich, es war systematischer körperlicher und mentaler Missbrauch", berichtete die Olympia-Sechste mit der Mannschaft von 2016 in Rio de Janeiro mehr als drei Jahre nach ihrem Karriereende.
Missstände lange erfolglos angeprangert
Alt hatte ihre Stellungnahme mit dem Satz begonnen: "Du bist nicht das, was Dir angetan wurde!" Lange Zeit habe sie gezögert, sich öffentlich über die Missstände in Stuttgart, aber auch im deutschen Frauen-Turnen generell zu äußern. "Der Gedanke, solche Themen besser intern anzusprechen, schien mir sicherer, da die Öffentlichkeit oft zu wenig Hintergrundwissen hat, um fair zu urteilen oder richtige Schlüsse zu ziehen."
In ihrem Statement erklärte sie nun, vor drei Jahren einen ausführlichen Brief an ihre Heimtrainer, die damalige Bundestrainerin Ulla Koch, den DTB-Präsidenten Alfons Hölzl, den Teamarzt und an weitere Verantwortliche geschrieben zu haben. "Darin habe ich die Missstände hier in Stuttgart und im deutschen Frauenturnen im Allgemeinen an meinem Beispiel klar benannt und bekannt gemacht." Mit Bedauern habe sie feststellen müssen, dass dies erfolglos gewesen sei und zu nichts geführt habe. Der DTB bestätigte, dass der genannte Brief vorliegt. Er wurde vertraulich behandelt.
Weitere Turnerinnen melden sich
Auslöser der aktuellen Debatte ist der Rücktritt von Meolie Jauch kurz vor Weihnachten. Die 17-jährige Stuttgarterin, die bei den Weltmeisterschaften 2023 zur deutschen Auswahl gehörte, hatte ihre Entscheidung mit mentalen Problemen begründet. Die ehemalige Turnerin Timm legte am Sonntag in ihrem Post bei Instagram nach. Sie habe sich vor mehr als zwei Monaten an den DTB gewandt. "Ich denke, dass es mittlerweile bekannt ist, dass es mit dem Trainerteam im weiblichen Bereich massivste Probleme gibt", schrieb die 27-Jährige. "Niemand, der das Erzählte nicht selbst erlebt hat, kann nachvollziehen, was all das mit einem macht. Diese jahrelangen Missstände machen Menschen kaputt. Diese emotionale Abhängigkeit ist für Außenstehende kaum zu beschreiben und ich kann gar nicht zum Ausdruck bringen, was Kinder wie ich durchlebt haben", schrieb sie zu einem Brief, den sie mitveröffentlichte.
Zuletzt hatte überdies in Emilie Petz bereits eine weitere frühere Top-Turnerin öffentlich gemacht, dass sie viele Jahre lang an Essstörungen und Selbstzweifeln gelitten hat. "Ich kämpfe seit Jahren gegen eine Essstörung", schrieb die 21-Jährige. Wegen der Folgen einer Achillessehnenverletzung musste sie ihre Karriere im Dezember 2023 beenden. "Meine Verletzung hat mir gezeigt, dass sich einige Leute nur für mich interessieren, wenn ich erfolgreich bin", schrieb sie nun.
Kim Bui, die 2022 ihre Karriere beendete und im März 2023 in einem Buch ihre jahrelange Bulimie öffentlich machte und den Leistungssport als unmenschlich anprangerte, reagierte emotional auf die vielen Offenbarungen ihrer ehemaligen Teamkolleginnen. "Es erfordert unglaubliche Stärke, sich so offen mit der eigenen Geschichte an die Öffentlichkeit zu wenden - besonders, wenn man weiß, wie viel Schmerz und Zweifel damit verbunden sind", schrieb sie bei Instagram. "An alle, die sich jetzt öffnen: Ihr seid nicht allein. Wir stehen zusammen - mit jeder Stimme und jeder Erfahrung. Und wir tun es für uns, für alle, die vor uns kamen, und für die, die nach uns kommen werden."
Quelle: ntv.de, ara/dpa