Sprint-Dominator Noah Lyles Der Showman, der mit den Depressionen kämpft
21.08.2023, 16:27 UhrNoah Lyles gilt als Mann mit dem gewissen Extra. Der angestaubten Leichtathletik tut so ein schriller Typ gut. Doch er hat auch ein andere Seite, er hat eine traurige Geschichte zu erzählen. Kann der neue 100-Meter-Weltmeister die Lücke schließen, die Usain Bolt hinterlassen hat?
Noah Lyles lächelte breit. "Irgendwann werden die Leute auf dieses Jahr zurückblicken", rief der neue schnellste Mann der Welt: "Und dann werden sie sagen: Das war der Start einer Dynastie." Nach seinem Gold-Triumph über die 100 Meter peilt der Amerikaner in Budapest nun das Triple an, aber Lyles geht es um viel mehr als nur Medaillen. Lyles will ein Vermächtnis hinterlassen. Wie einst Usain Bolt.
Viele haben versucht, Nachfolger der Legende aus Jamaika zu werden. Alle sind bisher gescheitert. Aber Lyles könnte die Lücke womöglich tatsächlich füllen, der 26-Jährige bringt alles mit. Charisma, Charme, die Lust zur Show, flotte Sprüche - und eine bewegende Geschichte. "Es ist einfach, mich zu vermarkten. Denn ich gehe da raus, ich bin aufregend, ich bin fröhlich, ich gehe auf die Leute zu", sagte Lyles, der im Klassiker schlechthin in 9,83 Sekunden nicht zu halten war.
Die Sehnsucht nach einem Superstar
Der WM-Champion bringt das gewisse Extra mit, bei Meetings läuft er - wie Stars im Football oder Basketball - mit schrillen Outfits ein, der Sport ist für ihn eine Art Catwalk. Der angestaubten Leichtathletik tut so ein schriller Typ gut, er könnte die Sehnsucht nach einem Superstar stillen. "Die Leichtathletik muss sich besser vermarkten, die Geschichten müssen besser erzählt werden", sagte Lyles, der selber immer wieder neue Wege sucht. Bei Peacock läuft bereits eine Doku über ihn, Netflix will vor Olympia in Paris auch etwas mit den Sprintstars produzieren. Lyles malt gerne, er rappt. Und er scheut sich auch nicht, über Schwächen und Ängste zu sprechen.
In der Highschool wurde Lyles oft gehänselt, er hatte eine Lernstörung, die Eltern ließen sich früh scheiden, seine Mutter Keisha zog ihn und den ebenfalls sprintenden Bruder alleine groß, nicht immer war genug Essen und Geld da. "Einmal wurde uns der Strom abgestellt", sagte Lyles. Und er leidet an Depressionen. "Alles fühlt sich irgendwie sinnlos an", sagt er über die Phasen, wenn die Krankheit wieder zuschlägt
"Es war der perfekte Sturm aus all diesen Dingen"
Vor seinem Triumph im vergangenen Jahr bei der Heim-Weltmeisterschaft war er wieder einmal aus einem ganz tiefen Tal gekommen. Es war eine Geschichte, die die Amerikaner so sehr lieben. Ein Held mit einem schweren Bruch im Lebenslauf. In den vergangenen zwei Jahren (und ein paar Monaten) war verdammt viel über ihn hereingebrochen, zu viel: erst die Pandemie, dann die Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio und schließlich die Black-Lives-Matter-Bewegung. Es ging bis an die Grenzen der Erträglichkeit, und darüber hinaus. "Am schlimmsten war es im April (Anmerk. d. Red.: im Jahr 2020)", sagte Lyles damals im August. "Es war der perfekte Sturm aus all diesen Dingen. Dann denkst du dir: Okay, worauf soll ich meine Aufmerksamkeit jetzt richten?" Vor allem die durch den gewaltsamen Tod des Schwarzen George Floyds seitens weißer Polizisten ausgelöste Bürgerrechtsbewegung beschäftigte ihn: "Das war der letzte Nagel im Sarg."
Er sei, so gestand er, "an den Punkt gekommen, wo ich gesagt habe: Ich kann das hier nicht mehr!" Seine Mutter Keisha Cane war es, die ihn zu einem gravierenden Schritt bewegte: "Sie hat einfach gesagt: 'Es ist Zeit, dass du anfängst, Medikamente zu nehmen'. Ich stimmte zu, denn alles, was ich tat, das mir zuvor geholfen hatte, hat mir nicht mehr geholfen", bekannte er und so nahm Lyles Antidepressiva: "Es war eine der besten Entscheidungen, die ich seit einer Weile getroffen habe", schrieb er auf seinem Twitter-Kanal. Seitdem könne er denken "ohne den dunklen Unterton, dass alles egal ist". Parallel dazu wurde er von zwei Therapeuten betreut.
Bewegender Monolog nach Tokio-Bronze
Seiner Psyche ging es besser, aber seine Physis litt. Als die Olympischen Spiele, sie waren sein großer Traum, ein Jahr später doch angesetzt wurden, setzte der Sprinter seine Medikamente schließlich ab. Er gewann Bronze. Aber glücklich war er nicht. Wie die "Neue Zürcher Zeitung" nun noch einmal berichtet, brach es nach dem Lauf aus ihm heraus. In einem siebenminütigen Monolog berichtete er über Schwächen und Schmerzen. Er schüttete sein Herz aus. Lyles war nicht mehr das Sprint- und Showmonster, sondern ein verletzlicher Athlet. Ein weiterer. In Tokio hatten die Systeme von Turn-Ikone Simone Biles unter dem immensen Druck vorübergehend versagt.
Lyles sagte dazu: "Jetzt, da wir bei den Olympischen Spielen sind, beobachten uns so viele Leute und denken: Oh, vielleicht sagen sie die Wahrheit. Viele Leute sehen Sportler nicht als Menschen an. Sie sehen uns entweder nur als Berühmtheit, Übermensch oder Superheld. Und obwohl wir Dinge tun, die viele Menschen nicht können, haben wir immer noch das gleiche Leben wie viele normale Menschen." Auch Athleten "haben Emotionen. Vertrauen, und glauben Sie mir, wenn wir beleidigt werden, spüren wir das. Es tut weh."
"Die 100 Meter? Das war ein langer Weg"
Bisher sorgte Lyles vor allem über die 200 Meter für Aufsehen. Auf dieser Strecke wurde er bereits zwei Mal Weltmeister, holte Olympia-Bronze, hat mehr Rennen unter 20 Sekunden hingelegt als Bolt. Hier traut er sich auch zu, den Weltrekord von 19,19 Sekunden zu knacken. Aber die 100 Meter haben noch einmal eine ganz andere Strahlkraft. "Die 100 Meter? Das war ein langer Weg", sagte Lyles, er sei "durch Blut, Schweiß und Tränen" auf den Thron gekommen.
Und nun? Klar, das Triple soll her. "Ich bin hierhergekommen, um drei Goldmedaillen zu gewinnen", sagte Lyles. Über die 200 Meter am Freitag ist er der Favorit, zudem steht ein Tag später noch die 4x100-Meter-Staffel auf dem Programm. Bolt ist der bisher letzte Sprinter, dem das Triple gelang - 2015 in Peking. "Der Grund, warum ich das unbedingt machen will, ist, dass niemand anderes es mehr verdient als ich", sagte Lyles noch, am Ende der WM soll der "Champagner knallen".
Quelle: ntv.de, tno/sid